Biographien, Lager und Zwangsarbeit
Gyula Fürst wurde am 1. Juni 1923 als jüngstes von insgesamt vier Kindern in der ungarischen
Gemeinde Boba im Komitat Vas geboren. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie nach Ugodpuszta um,
wo sein Vater als Landwirt arbeitete. Dort besuchte Fürst die Schule im sechs Kilometer entfernten
Bezi község.
Mit ungefähr neun Jahren zog Fürst mit seiner Familie erneut um, zunächst zurück nach Boba und von
dort in die westungarische Stadt Szombathely. Hier ließ sich Gyula Fürst zum Elektriker ausbilden
und wurde außerdem Mitglied in einer Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei.
Fürst fand Arbeit in Budapest und lebte dort bei Doktor Kovács, einem Onkel mütterlicherseits.
Der Einmarsch deutscher Truppen in Ungarn markierte den Beginn der Vernichtung der ungarisch-jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in Ungarn in Folge der ungarischen Annexion von Gebieten der Slowakei, Rumäniens und Jugoslawiens circa 800.000 Jüdinnen und Juden.1 Am 20. März 1944 wurde Gyula Fürst – wie er sich in einem am 30. November 2005 geführten Interview mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen erinnerte – bei einer Straßenbahnkontrolle auf dem Weg zur Arbeit von ungarischen Pfeilkreuzlern verhaftet und in ein polizeiliches Sammelgefängnis überstellt. Nach kurzem Aufenthalt folgte Gyula Fürsts Deportation nach Kistarcsa. Das Lager befand sich ungefähr 15 Kilometer nordwestlich von Budapest. Im Mai 1944 begannen die Deportationen nach Auschwitz-Birkenau. Über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung im ungarischen Staatsgebiet wurde innerhalb weniger Wochen zur systematischen Ermordung in das Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Auch Gyula Fürst wurde nach der Auflösung des Lagers Kistarcsa im April 1944 an das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überstellt. Gyula Fürst erinnerte sich in dem Interview, dass er bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts von Auschwitz und den dort stattfindenden Selektionen gehört hatte. Er habe darum fassungslos reagiert, als polnische Mitgefangene über das Schicksal der Selektierten in den Gaskammern berichtet hätten. In Auschwitz war Gyula Fürst etwa zwei Wochen inhaftiert.
Ab dem 15. Mai 1944 fuhren täglich mehrere Züge aus Ungarn nach Auschwitz. Von diesen in weniger als zwei Monaten ungefähr 440.000 aus Ungarn Deportierten wurde nur jede und jeder zehnte als arbeitsfähig eingestuft. Die Übrigen wurden in Auschwitz ermordet. Im Herbst 1944 wurden mehrere 10.000 Menschen von Auschwitz an Konzentrationslager im Reichsgebiet überstellt, um ihre Arbeitskraft in der Rüstungsindustrie oder bei der Trümmerräumung auszubeuten.2
Insgesamt wurden bis Mitte Januar 1945 rund 65.000 Häftlinge zu diesem Zweck in andere Lager oder Standorte der Kriegswirtschaft und Rüstungsproduktion im Deutschen Reich verlegt. Gyula Fürst war einer dieser Häftlinge. Von Auschwitz aus wurde er an das Arbeitslager Wüstegiersdorf, einem Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen, überstellt. Dort leistete er Zwangsarbeit als Elektriker. Er erinnerte sich im Interview an schwere Misshandlungen in Wüstegiersdorf. Diese habe er in Form von willkürlicher Brutalität durch die SS erlebt. Im Februar 1945 folgte Gyula Fürsts Transport in das Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo er seinen Erinnerungen nach erneut nur einige Tage verbrachte. Fürst erinnerte sich an Bergen-Belsen als die eigentliche Hölle seines schweren Deportationsweges. Dabei sprach er im Interview vor allem von der mangelnden Lebensmittelversorgung und dem großen Hungerleiden der Gefangenen im Lager. Mit den Räumungstransporten kamen Verfolgte aus allen von Deutschland besetzen Ländern in Bergen-Belsen an. Die größten Gruppen bestanden aus Häftlingen aus Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Aufgrund der Zunahme der Häftlingszahlen änderte die SS die Lagerstrukturen und erweiterte das Frauen- und das Männerlager schrittweise. Mit Gyula Fürst erreichten allein im Februar 1945 weitere 27.100 Menschen das ohnehin schon katastrophal überfüllte und unzureichend versorgte Lager.3
Von Bergen-Belsen aus wurde Gyula Fürst zur Zwangsarbeit in die nahegelegene Stadt Celle verlegt, um dort neue Schienen für die durch Bombardierung zerstörte Eisenbahnlinie zu bauen.
Am 2. März 1945 wurde er nach Hildesheim deportiert und war für eine weitere kurze Zeitspanne im Außenlager Ahlem des Konzentrationslagers Neuengamme in Hannover inhaftiert. Am 8. April 1945 traf Gyula Fürst erneut im Konzentrationslager Bergen-Belsen ein, wo er am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurde.
Das nationalsozialistische Deutschland griff in hohem Maße auf Zwangsarbeit zurück um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken, allein im Deutschen Reich mussten während des Zweiten Weltkrieges über 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten. Zwangsarbeit wurde dabei in allen Industriezweigen aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt. Die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gehörten insbesondere in den letzten Kriegsjahren zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland.
Das KZ Bergen-Belsen war 1943 zunächst als „Austauschlager“ für die Unterbringung jüdischer Geiseln gegründet worden. Schnell wurden ihm aber weitere Funktionen zugewiesen und ein Männer- sowie ein Frauenlager eingerichtet. Ab Ende 1944 wurde Bergen-Belsen Ziel vieler Todesmärsche und Räumungstransporte und entwickelte sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen zu einem Sterbelager. Nach der Befreiung wurde in Bergen-Belsen ein polnisches und ein jüdisches Displaced Persons-Camp eingerichtet. 4
Nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen wurde Gyula Fürst von den Briten in das Krankenhaus Siloah in Hannover überstellt. Bei seiner Einlieferung wog er 37 Kilo. Er wurde am 17. Juli 1945 entlassen.5
Gyula Fürst berichtete in den Interviews darüber, dass er wie die meisten befreiten Menschen erst nach dem Krieg von dem Schicksal seiner Familie erfahren habe, die aus Szombathely deportiert worden war. Beide Elternteile waren zusammen nach Auschwitz verschleppt worden, wo sie ermordet wurden. Über seinen älteren Bruder wusste er, dass dieser 1943 bei der Zwangsarbeit in Voronezh, Russland gestorben war. Seine Schwester Irma Fürst wurde am 14. August 1944 über Auschwitz6 in das Konzentrationslager Stutthof im heutigen Polen deportiert, wo sie am 6. Dezember 1944 ebenfalls ermordet wurde.7
Einzig seine Schwester Frieda Fürst überlebte auch. Sie wurde am 19. November 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück bei Brandenburg deportiert und von dort aus am 3. Januar 1945 an das Konzentrationslager Buchenwald, Weimar überstellt, wo sie befreit wurde.8
Gyula Fürst heiratete nach dem Krieg. Seine Frau und er bekamen eine gemeinsame Tochter.
Gyula Fürst starb am 16. Mai 2012 in Ungarn.
Die vorliegende Biografie basiert vor allem auf den Erzählungen und Erinnerungen von Gyula Fürst selbst, welche er in zwei Interviews mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen aufarbeitete. Ergänzt werden seine subjektiven Schilderungen des Erlebten durch historische Eckdaten, die sich vor allem am Katalog der Ausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen orientieren.
Anhand von Fürsts Erinnerungen lässt sich sein Deportationsweg rekonstruieren, der sich durch kurze Haftzeiten an vielen verschiedenen Orten auszeichnete. Die verschiedenen Arten von Zwangsarbeit, die Fürst leisten musste, stehen exemplarisch für die Ausbeutung unzähliger Jüdinnen und Juden aus dem damaligen Ungarn.
Zugleich verdeutlicht Gyula Fürsts Geschichte die Willkür der SS und die angesichts des Kriegsverlaufes zunehmend hektische Verlegung, der die Häftlinge im Deutschen Reich ausgeliefert waren.
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte Bergen-Belsen. Interview mit Gyula Fürst am 30.11.2005, BV 365.
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940-1945, Konzentrationslager 1943-1945, Displaced Persons Camp 1945-1950. Katalog der Dauerausstellung, Celle 2019.
Yad Vashem. Internationale Holocaust Gedenkstätte, Die Ermordung der ungarischen Juden, online unter: https://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/fate-of-jews/hungary.html (letzter Zugriff: 29.06.2024).Jewish Virtual Library. A Project of Aice: Kistarcsa, online unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/kistarcsa?utm_content=cmp-true (letzter Zugriff: 03.07.2024).
Lara Meinert, Biografie von Gyula Fürst – ein ungewöhnlicher Deportationsweg, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/biografien/gyula-fuerst. Lizenz: CC BY 4.0.