Biographien, Lager und Zwangsarbeit
Yehuda Blum wurde am 2. Oktober 1931 im damals tschechoslowakischen Bratislava geboren. Er war der Älteste von insgesamt drei Kindern. Er hatte einen Bruder (Amram Blum) und eine Schwester (Leah Blum). Yehuda Blums Vater Joseph Blum kam aus dem Osten der Slowakei nach Bratislava und wurde dort der Direktor der Jewish Credit Bank. Blums Mutter Seldie Blum (geborene Dux) wurde in Transsilvanien geboren und zog gemeinsam mit ihrem Mann nach ihrer Hochzeit im Jahre 1930 nach Bratislava.
1938 wurden die Aktivitäten der deutschen Minderheit in Bratislava militanter. Am 9. November 1938 folgte die sogenannte Reichspogromnacht, wobei jüdische Geschäfte, Synagogen und Schulen in der Stadt zerstört wurden. Dies geschah vom 9. auf den 10. November 1938. Das nationalsozialistische Deutsche Reich ordnete gezielte Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung an. Die Slowakei war während des Zweiten Weltkrieges vom Deutschen Reich abhängig, Präsident war der katholische Priester Jozef Tiso, der mit Deutschland kooperierte und ähnliche ideologische Ansätze vertrat. Unterstützt wurde das Regime durch die 1913 von Andrej Hlinka gegründete slowakische Volkspartei Hlinka-Garde. Die Partei propagierte einen konservativen, katholischen Nationalismus. Ab 1938 wurde die Verfolgung und Entrechtung der rund 80.000 Jüdinnen und Juden des Landes zunehmend zum Kernelement der politischen Agenda der Partei.
Von 1942 bis 1944 wurden etwa zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in der Slowakei verschleppt (etwa 58.000 Jüdinnen und Juden), weitere 13.000 Jüdinnen und Juden im Herbst 1944.
Yehuda Blums persönliche Erinnerungen wurden in einem Zeitzeugeninterview mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen festgehalten, welches am 19. Juni 2003 aufgezeichnet wurde.1 Er erinnerte sich in dem Interview, dass die Familie Blum 1939, ein Jahr nach den Novemberpogromen, in der Nacht von der slowakischen Hlinka-Garde überfallen wurde. Daraufhin und angesichts der stark zunehmenden antisemitischen Restriktionen in Bratislava habe Blums Vater entschieden, dass die Familie nicht länger in Bratislava leben könne.
Die Familie zog 1940 nach Budapest in Ungarn. Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im März 1944 änderten sich die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in Ungarn schlagartig. Yehuda Blum schilderte im Interview, dass seine Schule bereits am nächsten Tag geschlossen worden sei und die alltägliche Diskriminierung zugenommen habe.
Im Juni 1944 gab es erste Verhandlungen jüdischer Organisationen mit den Nationalsozialisten darüber, dass ein Transport mit ausgewählten ungarischen Jüdinnen und Juden durch die Ausreise in ein neutrales Land diese vor der Deportation nach Auschwitz bewahren sollte. Reszö Kasztner verhandelte als Vertreter des jüdischen Hilfskomitees in Ungarn mit der SS. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Massendeportationen nach Auschwitz seit Mai 1944 bereits begonnen. Gegen kriegsrelevante Güter und Geld sollte die Kasztner-Gruppe, etwa 1.690 Jüdinnen und Juden, in Freiheit entlassen werden. Statt in die neutrale Schweiz schickte die SS den Kasztner-Zug jedoch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Von dort konnten zunächst nur 318 der insgesamt etwa 1.690 Jüdinnen und Juden nach Verhandlungen mit der SS das Lager im August 1944 verlassen. Der größere Teil der Gruppe reiste erst im Dezember 1944 in die Schweiz aus. 17 Personen mussten trotz der bereits getroffenen Vereinbarungen in Bergen-Belsen zurückbleiben. 2
Die aus Ungarn deportierten Juden und Jüdinnen gehörten verschiedenen Gemeinden und religiösen Strömungen im Judentum an. Nicht alle definierten sich zwangsläufig selbst als jüdisch. Für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten war weder ihre Religion noch eine kulturelle Zugehörigkeit zum Judentum oder die Selbstzuschreibung entscheidend. Das Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung bildete ein rassistischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden nach ihrer Abstammung definierte. Auch Christen und Christinnen sowie Atheisten und Atheistinnen wurden unabhängig von ihrer Selbstdefinition oder kulturellen Zugehörigkeit durch die Nationalsozialisten als Juden verfolgt, wenn sie deren Abstammungskriterien entsprachen. Nicht alle hier als Jüdinnen und Juden bezeichneten Personen identifizierten sich selbst als jüdisch, sie alle wurden jedoch als jüdisch verfolgt.
Auch Yehuda Blums Familie war für den Kasztner-Transport vorgesehen. Obwohl Yehuda Blums Vater an diesem Transport zunächst nicht teilnehmen wollte, organisierte er später gemeinsam mit Philip Freudiger, dem Oberhaupt der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Budapest, die Teilnahme der Familie.
Yehuda Blum erinnerte sich im Interview, dass seine Familie daraufhin in ein ungarisches Sammellager gebracht worden sei. Nachdem sie sich dort für kurze Zeit aufgehalten hätten, habe die Familie Blum Ungarn am 1. Juli 1944 in Güterwaggons gemeinsam mit ungefähr 1.690 weiteren Jüdinnen und Juden verlassen. Sie hätten zunächst Halt an der deutsch-österreichischen Grenze gemacht, wo laut Blum erste Gerüchte über einen Transport nach Auschwitz entstanden seien und sich Panik unter den Menschen ausgebreitet habe. Der nächste Halt des Transportes sei Bratislava gewesen. Yehuda Blum erinnerte sich auch, dass manche Menschen den Zug hier verlassen hätten und andere wiederum zugestiegen seien. Am 7. Juli 1944 hielt der Zug zur Entlausung in Linz. Yehuda Blum schilderte im Interview, dass die Menschen bei dieser Station erneut große Angst vor einer möglichen Ermordung durch die SS gehabt hätten. Von Linz aus fuhr der Zug weiter Richtung Norddeutschland und erreichte Celle, von wo aus die später als Kasztner-Transport bezeichnete Gruppe zu Fuß nach Bergen-Belsen weiterlaufen musste.
Yehuda Blums Geschichte verdeutlicht die Ungewissheiten und Unsicherheiten während der Transporte, auf denen Jüdinnen und Juden im deutsch-kontrollierten Europa ihre Ziele oft tagelang nicht kannten. Obwohl der sogenannte Kasztner-Transport ursprünglich dazu vorgesehen gewesen war, ungarische Jüdinnen und Juden in ein neutrales Land zu bringen, endete dieser zunächst im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Bei der Ankunft im Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde die Familie zunächst registriert, wobei niemand aus der Kasztner-Gruppe wusste, wie lange der Aufenthalt dauern würde. Yehuda Blums Familie wurde nicht zur Ausreise in die Schweiz mit dem ersten Transport im August 1944 aufgerufen und musste daher weitere ungewisse Monate im Lager verbringen.
Yehuda Blum teilte in Bergen-Belsen das gleiche Schicksal wie mindestens 14.600 weitere Jüdinnen und Juden – vor allem aus Ungarn und den Niederlanden – , die zwischen Juli 1943 und Dezember 1944 im Lager ankamen. Im Frühjahr 1943 errichtet, sollte das Konzentrationslager Bergen-Belsen nach Plänen der SS und des Auswärtigen Amtes ursprünglich dem Austausch von Jüdinnen und Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit gegen deutsche Zivilpersonen in alliiertem Gewahrsam dienen. Trotz der Austauschfunktion des Lagers gelangten kaum jüdische Häftlinge auf diesem Weg in die Freiheit. Stattdessen waren sie in Baracken untergebracht, waren den Misshandlungen der SS ausgeliefert und mussten ihre Arbeitskraft zur Zwangsarbeit einsetzen.4 Bergen-Belsen bestand aus mehreren Teillagern, die von der SS für die unterschiedlichen Häftlingsgruppen errichtet wurden. So gab es in Bergen-Belsen unter anderem das sogenannte „Sonderlager“, wo ab Juli 1943 ungefähr 2.700 überwiegend polnisch-jüdische Häftlinge untergebracht waren; das sogenannte „Ungarnlager“, welches für die Unterbringung von insgesamt mehr als 5.000 ungarischen Häftlingen errichtet wurde und das sogenannte „Neutralenlager“, wo ab August 1943 etwa 600 Häftlinge untergebracht wurden, die zur Freilassung in die während des Zweiten Weltkrieges neutralen Staaten Spanien, Portugal und die Türkei vorgesehen waren. In diesen Lagerteilen trugen die Häftlinge Zivilkleidung und wurden nach Männern und Frauen getrennt.5
Yehuda Blum erinnerte sich im Interview an willkürliche Inspektionen und Zählappelle durch die SS, die während seines etwa viermonatigen Aufenthalts im „Ungarnlager“ den Lageralltag geprägt hätten. Allerdings berichtete er im Interview auch von abendlichen Vorträgen, gemeinsamem Singen und Nachmittagsunterricht in den Baracken. Da Yehuda Blum seinen dreizehnten Geburtstag in Bergen-Belsen erlebte, habe auch eine von Mithäftlingen organisierte Feier zu seiner Bar Mizwa im Lager stattgefunden.
Das KZ Bergen-Belsen war 1943 zunächst als „Austauschlager“ für die Unterbringung jüdischer Geiseln gegründet worden. Schnell wurden ihm aber weitere Funktionen zugewiesen und ein Männer- sowie ein Frauenlager eingerichtet. Ab Ende 1944 wurde Bergen-Belsen Ziel vieler Todesmärsche und Räumungstransporte und entwickelte sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen zu einem Sterbelager. Nach der Befreiung wurde in Bergen-Belsen ein polnisches und ein jüdisches Displaced Persons-Camp eingerichtet.6
Yehuda Blum wurde zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Kasztner-Gruppe am 4. Dezember 1944 auf die Abreise vorbereitet und verließ das Lager am frühen Nachmittag. Sein Zug hielt zunächst in Augsburg, Lindau und Bregenz. Bei einem weiteren Halt in Lustenau am Grenzübergang zur Schweiz mussten die Befreiten den Zug wechseln und in einen Schweizer Zug umsteigen. Als der Zug in Sankt Margrethen in der Schweiz ankam, sei die Gruppe Blums Erinnerungen zufolge apathisch gewesen. Schwerkranke seien an ein nahegelegenes Krankenhaus überstellt worden.
Yehuda Blum wurde zusammen mit anderen befreiten Häftlingen in der Turnhalle Kreuzbleiche in Sankt Gallen untergebracht. Nach einem kurzen Aufenthalt fuhr er mit seinem Bruder über Montreux weiter in den Kurort Caux, wo sie zusammen mit den anderen Befreiten in den Hotels Esplanade und Regina untergebracht wurden. Anschließend verbrachten Yehuda Blum und sein Bruder einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem Kinderheim in Interlaken. Seine Schwester wurde aufgrund ihrer schlechten körperlichen Verfassung in einem Heim im Engadin untergebracht.
Nachdem die Familie Blum wieder zueinandergefunden hatte ̶ wie dies gelang, ist nicht überliefert ̶ , reisten sie im August 1945 nach Bari, Italien, und von dort nach Taranto. Hier bestiegen sie ein Schiff nach Palästina, wo sie am 1. September 1945 ankamen.
In Jerusalem besuchte Yehuda Blum die Schule und schloss eine Lehrerausbildung ab. Er begann ein Jurastudium an der Hebräischen Universität und war außerdem politisch in der Studentenvertretung aktiv. Von 1955 bis 1959 leistete er Militärdienst. Daraufhin begann er ein Promotionsstudium in London. Ab 1961 war Yehuda Blum Jurist im israelischen Außenministerium und ab 1965 Professor für Internationales Recht an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Ein Jahr später heiratete er und bekam mit seiner Frau drei Kinder. Von 1978 bis 1984 war Blum israelischer Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York. Ab 1984 nahm er seine Professur für Internationales Recht wieder auf.
Yehuda Blum veröffentlichte im Laufe seines Lebens zahlreiche Bücher. 2002 wurde er pensioniert und lebt seither in Jerusalem.
Die vorliegende Biografie basiert vor allem auf den Erzählungen und Erinnerungen von Yehuda Blum selbst, welche er in zwei Interviews mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen aufarbeitete. Seit 1999 werden solche Videointerviews mit den Überlebenden des Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagers, sowie mit weiteren Zeitzeugen und Zeitzeuginnen für die wissenschaftliche, pädagogische und museale Arbeit der Gedenkstätte vor Ort geführt. Diese Erinnerungsberichte ermöglichen den Überlebenden, ihr eigenes Narrativ über die Shoah in einen historischen Zusammenhang zu bringen und die Arbeit der Gedenkstätte aktiv mitzugestalten. Ergänzt wurden Yehuda Blums subjektive Schilderungen des Erlebten durch historische Eckdaten, wobei sich vor allem am Katalog der Ausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen orientiert wurde. Darüber hinaus existiert eine Namensliste des Kasztner-Transports, welche die Namen der Familie Blum ebenfalls anführt.
Marta Ansilewska-Lehnstaedt / Stephan Lehnstaedt, Das Holocaustmuseum Sereď – slowakische Wege zur »Vergangenheitsbewältigung«, in: Gedenkstättenrundbrief 195 (2019), S. 23.
Diana Gring / Peter Müller, Licht am Ende der Nacht. Die Transporte aus dem KZ Bergen-Belsen nach St. Gallen, St. Gallen 2019.
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940-1945, Konzentrationslager 1943-1945, Displaced Persons Camp 1945-1950. Katalog der Dauerausstellung, Celle 2019.
Christiane Toyka-Seid / Gerd Schneider, Pogrom / Reichspogromnacht, in: Bundeszentrale für politische Bildung, kurz&knapp. Lexika, online unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/320945/pogromreichspogromnacht (letzter Zugriff: 28.04.2024).
Lara Meinert, Yehuda Blum – die Kasztner-Gruppe, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/biografien/yehuda-blum. Lizenz: CC BY 4.0.