Die Gruppe der 300. Zwangsarbeiter als Facharbeiter bei VW

Circa 13,5 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkrieges zu Zwangsarbeit im Deutschen Reich herangezogen. Die Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft war nur durch die zwangsverpflichteten Arbeiterinnen und Arbeiter, Kriegsgefangenen und Konzentrationslager-Häftlinge möglich. Diese wurden in allen wirtschaftlichen Bereichen eingesetzt und gehörten mit fortschreitendem Verlauf des Krieges zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland.1 KZ-Häftlinge wurden dabei unter anderem in der Rüstungsindustrie eingesetzt, mit deren Verlagerung unter Tage die Nationalsozialisten 1943 angesichts der alliierten Luftüberlegenheit begannen. Durch die Produktion moderner Abfangjäger und Raketen in bombensicheren Stollen sollte die sich immer klarer abzeichnende Kriegsniederlage abgewendet werden. Der Großteil der gigantomanischen Projekte wurde nie fertiggestellt, die meisten der Produktionsanlagen nie in Betrieb genommen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die KZ-Häftlinge waren besonders hart und forderten tausende Todesopfer. Insbesondere der Tod jüdischer Häftlinge war im Rahmen einer „Vernichtung durch Arbeit“ einkalkuliert. Die individuellen Überlebenschancen der Häftlinge hingen nicht zuletzt vom zugeteilten Arbeitskommando ab. Häftlinge, die notwendige berufliche Qualifikationen aufwiesen oder für ihre Arbeitskommandos länger eingearbeitet worden waren, galten als weniger ersetzbar.2

300 Facharbeiter für Volkswagen

Auch in einem ehemaligen Erzstollen im französischen Thil sollte eine unterirdische Produktionsstätte für 10.000 Arbeiter durch eine Tochterfirma von Volkswagen eingerichtet werden. Hierfür reiste im Juni 1944 der VW-Ingenieur Arthur Schmiele ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, um Arbeitskräfte unter den zuvor aus Ungarn deportierten jüdischen Häftlinge auszuwählen. Schmiele stellte eine Gruppe von 500 und eine Gruppe von 300 Männern zusammen, die er nach einer Abfrage der beruflichen Qualifikation als Metallfacharbeiter und einer kurzen Eignungsprüfung auswählte. In beiden Gruppen befanden sich dementsprechend viele Schlosser und einige Ingenieure, aber auch Menschen aus anderen Berufen, die eine entsprechende Qualifikation vortäuschten. Trotz ihrer kurzen Zeit in Auschwitz-Birkenau, hatten sie vermutlich erkannt, dass die Zuteilung in ein Arbeitskommando außerhalb von Auschwitz eine größere Chance zum Überleben bot.3

Karte der Deportationsroute aus Oradea und Cluj-Napoca über Auschwitz und vier weitere Lager ins Konzentrationslager Bergen-Belsen

Deportationsroute der „Gruppe der 300“. © Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Lizenz: CC BY 4.0 🔍 Zum Vergrößern klicken.

Wer war in der 300er-Gruppe?

Die Häftlinge stammten vor allem aus Gebieten im Nordosten des heutigen Rumäniens. 1940 war Rumänien durch das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien gezwungen worden, diese Gebiete an Ungarn abzutreten. Nach der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 wurden von den deutschen Besatzern und ungarischen Behörden innerhalb kürzester Zeit Ghettos für die jüdische Bevölkerung eingerichtet, so auch am 3. Mai im damaligen Nagyvárad und in Kolozsvár, dem heutigen Oradea und Cluj Napoca – Orte, aus denen viele der Deportierten dieser Gruppe stammten. Bereits Ende Mai und Anfang Juni 1944 wurde die jüdische Bevölkerung der beiden Ghettos ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort wurden die Familien nach Geschlechtern voneinander getrennt und alle Alten, Kranken oder Kinder sowie die Mütter und Schwangeren der Deportierten in den Gaskammern ermordet. Lediglich die als arbeitsfähig eingestuften Häftlinge überlebten die Selektion.4 Wie Überlebende später berichteten, war die aus diesen Transporten ausgewählte Gruppe sehr vielfältig, einige hatten in ihren Elternhäusern Ungarisch, andere Rumänisch, Deutsch, Serbisch, Jiddisch oder eine Kombination dieser Sprachen gesprochen. Teile der Gruppe waren sehr religiös, für andere spielte Religion keine Rolle, einige hatten sogar christliche Familien, alle wurden jedoch durch die Nationalsozialisten als Juden verfolgt. Einige waren bereits über fünfzig und andere unter zwanzig, der jüngste war erst vierzehn Jahre alt. Mehreren Vätern gelang es, gemeinsam mit ihren Söhnen in die Gruppe eingeteilt zu werden und auch andere Häftlinge waren durch die gemeinsame Herkunftsregion bereits vorher miteinander bekannt oder verwandt.5

ⓘ Mehr zum historischen Hintergrund

➥ Historischer Kontext

ⓘ Jüdinnen und Juden

Die aus Ungarn deportierten Juden und Jüdinnen gehörten verschiedenen Gemeinden und religiösen Strömungen im Judentum an. Nicht alle definierten sich zwangsläufig selbst als jüdisch. Für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten war weder ihre Religion noch eine kulturelle Zugehörigkeit zum Judentum oder die Selbstzuschreibung entscheidend. Das Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung bildete ein rassistischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden nach ihrer Abstammung definierte. Auch Christen und Christinnen sowie Atheisten und Atheistinnen wurden unabhängig von ihrer Selbstdefinition oder kulturellen Zugehörigkeit durch die Nationalsozialisten als Juden verfolgt, wenn sie deren Abstammungskriterien entsprachen. Nicht alle hier als Jüdinnen und Juden bezeichneten Personen identifizierten sich selbst als jüdisch, sie alle wurden jedoch als jüdisch verfolgt.

Spezialisten im VW-Werk Fallersleben

Während die 500er-Gruppe direkt nach Thil deportiert wurde, wurde die 300er-Gruppe zunächst in Viehwagons ins VW-Werk nach Fallersleben deportiert, wo sie in der Montage der Fieseler 103 (V1) Rakete ausgebildet wurden. Die Häftlinge mussten dabei täglich in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten, wobei sie alle zwei Wochen einen Tag frei bekamen. Zu dieser Zeit sahen sie kein Tageslicht, da sie direkt im VW-Werk in ehemaligen Waschkauen im selben Gebäude untergebracht waren, in dem auch die Produktion stattfand. Später wurden in denselben Räumen Jüdinnen aus Ungarn als KZ-Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Die 300 KZ-Häftlinge wurden von den anderen Arbeitern und Arbeiterinnen isoliert und hatten lediglich Kontakt mit ihren deutschen Vorarbeitern und dem Wachpersonal aus abkommandierten Luftwaffensoldaten. Als vermeintliche Facharbeiter, sollten die 300 Männer die Kernbelegschaft der neuen unterirdischen Produktionsstätte bilden und das von ihnen erworbene Wissen über die Herstellung der Raketen geheim gehalten werden.6

Zwangsarbeit bei VW

1938/1939 hatte die ein Jahr zuvor gegründete Volkswagen GmbH ihr Werk in der Nähe von Fallersleben im heutigen Wolfsburg errichtet. Nach Kriegsbeginn wurden hier nicht wie ursprünglich geplant Autos für die deutsche Zivilbevölkerung produziert, sondern Rüstungsaufträge übernommen. Dabei griff der Volkswagen-Konzern auch auf die verschiedenen Formen nationalsozialistischer Zwangsarbeit zurück. Ende 1944 stellten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zwei Drittel der Belegschaft, insgesamt mussten etwa 200.000 Menschen Zwangsarbeit bei Volkswagen leisten, viele von ihnen überlebten die Arbeitsbedingungen nicht. Neben zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, sowjetischen Kriegsgefangenen und italienischen Militärinternierten betrifft dies auch insgesamt circa 5.000 KZ-Häftlinge. Nachdem die Geschichte des VW-Konzerns im Nationalsozialismus in den 1980er- und 1990er-Jahren öffentlich umfangreich thematisiert und wissenschaftlich untersucht wurde, befindet sich heute im VW-Werk eine Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeit auf dem Gelände.7

Im Vergleich zu anderen KZ-Häftlingen wurde die 300er-Gruppe im VW-Werk verhältnismäßig gut versorgt. Auch wenn sie keine neue Kleidung erhielten, waren sie durch ihre Unterkunft vor Witterung geschützt. Die Lebensmittelrationen waren zwar für die von ihnen verlangte Arbeit zu gering angesetzt, dabei aber umfangreicher als in anderen Lagern. Die für viele Konzentrationslager typischen Unterernährungserscheinungen, die auf Dauer häufig zum Tod der Häftlinge führten, blieben in der 300er-Gruppe zunächst aus.8

Aufgrund ihrer Ausbildung und vorgesehenen Funktion hatten die SS und VW zunächst ein Interesse am Überleben der Häftlinge, das sich jedoch nur auf die Dauer des Krieges und die damit einhergehende Notwendigkeit unterirdischer V1-Produktion erstreckte. Überlebende bezeugten nach dem Krieg in Interviews oder Erinnerungsberichten, dass nach den Erfahrungen in Auschwitz-Birkenau und den folgenden Konzentrationslagern die Zeit im Volkswagenwerk rückblickend noch erträglich erschien.9

ⓘ Zwangsarbeit

Das nationalsozialistische Deutschland griff in hohem Maße auf Zwangsarbeit zurück um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken, allein im Deutschen Reich mussten während des Zweiten Weltkrieges über 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten. Zwangsarbeit wurde dabei in allen Industriezweigen aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gehörten insbesondere in den letzten Kriegsjahren zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland.

➥ Mehr Informationen zu Zwangsarbeit

Deportationen und alliierter Vormarsch

Ende Juni 1944 wurde bei einem alliierten Bombenangriff die Produktionsstätte der Gruppe zerstört. Die Gruppe hatte den Angriff in einem Bunker überlebt und wurde nach einigen Tagen aus dem völlig zerstörten Werk zu einer anderen Produktionsstätte im besetzten Frankreich deportiert. Auf ihrem Weg in das Lager, das sich im besetzten Lothringen befand, erfuhr die Gruppe von der alliierten Landung in der Normandie. Die Bestätigung dieser Nachricht war laut dem Überlebenden David Hollander „the happiest moment“ – der glücklichste Moment – während seiner KZ-Haft.10 In Thil trafen sie auch wieder auf die Gruppe der 500 Männer, die mit ihnen zusammen in Auschwitz-Birkenau ausgewählt worden waren. Auch hier wurden die 300 Männer isoliert. Überlebende berichteten, dass sie ein eigenes Barackenlager inklusive eines Krematoriums errichten mussten, dass durch einen Zaun von den anderen Häftlingen getrennt war.11 Die Männer waren bei den Selektionen oft von Freunden und Verwandten getrennt worden, die sie nun teilweise durch den Zaun wiedersahen. Kontaktaufnahmen wurden jedoch streng verfolgt. Unter anderem der Überlebende Eliesar Farkas berichtete, dass ein Häftling in der anderen Gruppe seinen Bruder wiedererkannt und mit ihm am Zaun das Gespräch gesucht hätte, woraufhin er erschossen worden sei.12 Dem Überlebenden Alex Rosenbaum gelang es hingegen, heimlich einige Worte mit seinem Vater im anderen Lager zu wechseln.13

Da die Produktionsstätte in Thil noch nicht fertiggestellt war, wurde die Gruppe trotz ihrer aufwendigen Ausbildung insbesondere für Räum- und Bauarbeiten eingesetzt. Dabei kam die Gruppe auch regelmäßig in ein nahegelegenes französisches Dorf. Dort gelang es Häftlingen trotz der Bewachung, Kontakt mit der französischen Zivilbevölkerung und der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance, aufzunehmen. Überlebende wie zum Beispiel Pal Arie bezeugten, dass ein Häftling mithilfe der französischen Résistance sogar fliehen konnte und durch die Frontlinien zur US-Army gebracht wurde, der er von der V1-Produktion berichten konnte.14 Ende August konnte die US-Army Paris befreien. Lange bevor die Produktion in Thil beginnen konnte, wurde das Außenlager deshalb angesichts der sich nähernden Alliierten Anfang September 1944 geräumt.

Die Gruppe wurde daraufhin zunächst in das Außenlager Rebstock des KZ Buchenwald verlegt. Auch hier sollte eine unterirdische Produktionsstätte errichtet werden, die aber ebenfalls niemals in die Produktion ging. Die Gruppe war zuvor wieder auf 300 aufgestockt worden, um den ermordeten sowie den geflohenen Häftling zu ersetzen. Bereits Ende September wurde die Gruppe erneut deportiert, diesmal in das KZ Mittelbau-Dora. Aufgrund von Luftangriffen war der Transport mehrere Tage unterwegs und hielt wahrscheinlich auch einige Zeit in zivilen Bahnhöfen.

Das KZ Mittelbau-Dora

Das KZ Mittelbau-Dora war im August 1943 ursprünglich als ein Außenlager des KZ Buchenwald im Zuge der Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie eingerichtet worden. Im Oktober 1944 wurde es zu einem eigenständigen KZ erklärt. Eine nach dem Krieg gemachte Aufstellung geht davon aus, dass Anfang November 1944 bereits 13.796 Häftlinge im Stammlager des Konzentrationslager Mittelbau-Dora inhaftiert waren. Insgesamt waren während seines Bestehens mindesten 60.000 Häftlinge in Mittelbau-Dora – Stammlager und Außenlager – inhaftiert, wobei mindestens 20.000 durch die Arbeitsbedingungen und die Gewalt des Wachpersonals ermordet wurden. Heute befindet sich am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers eine Gedenkstätte.15

Untertageproduktion im KZ Mittelbau-Dora

Viele Häftlinge der 300er-Gruppe überlebten die Zeit in Mittelbau-Dora nicht. Anders als zuvor wurde die Gruppe hier nicht mehr isoliert, vor allem aber auch nicht mehr besser versorgt. Überlebende berichteten über den unaufhaltsamen Gewichtsverlust, der angesichts der bald erhofften Befreiung einen Wettlauf mit der Zeit bedeutete. In einem nach dem Krieg erschienenen Bericht seiner Haftzeit beschrieb der Überlebende Dezső Schön, dass er seinen Sohn Moshe wöchentlich wog, um den Gewichtsverlust zu dokumentieren.16 Viele der überlebenden Häftlinge wogen bei ihrer Befreiung nur wenig über 30 Kilo.17

Blick in eine Produktionshalle der V1 im Konzentrationslager Mittelbau-Dora im Mai 1945

Blick in eine Produktionshalle der V1 im Konzentrationslager Mittelbau-Dora, Mai 1945, Fotograf: unbekannt, D-Day Museum, Portsmouth, 089.006, online unter: https://fotoarchiv.dora.de/detail/2595, Public Domain.

Anders als andere Produktionsstätten konnte aufgrund des bereits bestehenden Tunnelsystems im KZ Mittelbau-Dora die unterirdische Produktion aufgenommen werden. Auch die Häftlinge der 300er-Gruppe wurden in den unterirdischen Produktionsanlagen eingesetzt. Die Erwartungen der NS-Führung an eine den Kriegsverlauf zugunsten der Deutschen beeinflussende „Wunderwaffe“ konnte die Produktion jedoch nicht erfüllen, die geplanten monatlichen Produktionszahlen konnten nie erreicht werden. Die vor allem durch verhungernde KZ-Häftlinge produzierten Raketen konnten außerdem zu fast einem Drittel nicht eingesetzt werden.18 Von Bedeutung war hierbei nicht zuletzt der Widerstand der Häftlinge. Überlebende der 300er-Gruppe berichteten, dass es zwei jungen Gruppenmitgliedern gelungen war, die Raketenproduktion über längere Zeit unentdeckt zu sabotieren und die Raketen funktionsuntüchtig zu machen.19

Tödliche Räumungstransporte und die Befreiung des KZ Bergen-Belsen

Als sich im April 1945 amerikanische Truppen dem KZ näherten, trieb die SS die noch lebenden Häftlinge der 300er-Gruppe zusammen mit tausenden anderen Häftlingen aus Mittelbau-Dora.20 Abgesehen von denjenigen Häftlingen, die bereits zu geschwächt oder krank waren, wurden die Häftlinge der Gruppe mit Güter- und Viehwagons ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Die schon geschwächten Häftlinge wurden während des mehrtägigen Transports nicht versorgt, so dass ein Großteil von ihnen die Fahrt nicht überlebte. Der Überlebende Moshe Shen bezeugte, dass in seinem Wagon 100 Menschen untergebracht gewesen waren, von denen nur 20 die zehntägige Fahrt überlebt hätten.21 Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 8.000 Häftlinge die Räumungstransporte und Todesmärsche aus Mittelbau-Dora nicht überlebten.22

Die Versorgungssituation in dem völlig überbelegten Lager Bergen-Belsen war katastrophal, so dass hier wahrscheinlich weitere Häftlinge der 300er-Gruppe durch die Haftbedingungen ermordet wurden. Die etwa 15.000 Häftlinge aus Mittelbau-Dora, die noch im April 1945 in Bergen-Belsen eintrafen, wurden in ehemaligen Wehrmachtskasernen, dem sogenannten Kasernenlager untergebracht.23 Dort wurden die überlebenden Häftlinge des Konzentrationslagers Bergen-Belsen am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit, die das Konzentrationslager kampflos übernahmen.

Bei der Befreiung fanden die Alliierten über 53.000 verhungernde und unzählige bereits tote Häftlinge vor. Viele Tausend starben auch nach der Befreiung noch an den Folgen der Haft. Allein bis Juni 1945 verloren 14.000 ehemalige Häftlinge aus Bergen-Belsen ihr Leben. Die britischen Truppen waren auf die katastrophalen Zustände, die sie in Bergen-Belsen vorfanden, nicht vorbereitet. Viele Häftlinge starben nicht zuletzt, da ihre verhungernden Mägen, die von den britischen Soldaten zu Beginn großzügig verteilten Lebensmittel nicht vertrugen. Erst nach einigen Tagen traf die notwendige Schonkost ein.24 Der Überlebende Moshe Shen erinnerte sich, dass er bei der Befreiung zu geschwächt war, um den Briten entgegenzugehen und die verteilten Lebensmittel entgegenzunehmen, was ihm wohl das Leben rettete.25

Es lässt sich nicht endgültig ermitteln, wie viele aus der 300er-Gruppe diese letzten Monate ihrer KZ-Haft überlebten. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit von ihnen in dieser Zeit zu Tode kam. Waren die Häftlinge der Gruppe zuvor noch privilegiert behandelt worden und hatten die Zeit in den Außenlagern deshalb noch fast vollständig überleben können, war die Sonderstellung der Gruppe mit der Ankunft in Mittelbau-Dora aufgehoben worden. Die Männer waren damit der gleichen, auf die Vernichtung der Häftlinge zielenden Behandlung durch das Wachpersonal wie die übrigen KZ-Gefangenen unterworfen.

ⓘ Das KZ Bergen-Belsen

Das KZ Bergen-Belsen war 1943 zunächst als „Austauschlager“ für die Unterbringung jüdischer Geiseln gegründet worden. Schnell wurden ihm aber weitere Funktionen zugewiesen und ein Männer- sowie ein Frauenlager eingerichtet. Ab Ende 1944 wurde Bergen-Belsen Ziel vieler Todesmärsche und Räumungstransporte und entwickelte sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen zu einem Sterbelager. Nach der Befreiung wurde in Bergen-Belsen ein polnisches und ein jüdisches Displaced Persons-Camp eingerichtet.26

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Quellen und Forschung

Der Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie und die Verhandlungen zwischen der SS und Wirtschaftsunternehmen wie Volkswagen sind gut dokumentiert.27 Für die 300er-Gruppe sind jedoch nur wenig Dokumente der sie betreffenden bürokratischen Vorgänge erhalten geblieben. Das Wissen über diese Gruppen stammt überwiegend aus den Berichten der Überlebenden, die vor allem im Zuge eines Forschungsprojektes zur Geschichte des Volkswagenkonzerns und durch Videointerviews der USC Shoah Foundation ab den 1980er-Jahren entstanden.28 Informationen über die Verwaltungsstruktur sowie Zuständigkeiten für das Außenlager im Volkswagenwerk sind deshalb sehr begrenzt. Erhalten geblieben ist lediglich die Kopie einer Häftlingsliste, die der überlebende Häftling Dezső Schön heimlich angefertigt und mitgeführt hatte. Erhalten ist zudem eine Zugangsliste des Außenlagers Rebstock, die ebenfalls die Häftlingsdaten enthält.29

Zugeteilte Häftlingsnummern des KZ Buchenwald für Zugänge aus den KZ Natzweiler
Zugeteilte Häftlingsnummern des KZ Buchenwald für Zugänge aus den KZ Natzweiler

Auszug aus der Liste mit zugeteilten Häftlingsnummern des KZ Buchenwald für Zugänge aus den KZ Natzweiler (Außenlager Rebstock), 27.09.1944 und KZ Dachau, 30.09.1944. Ghetto Fighters' House Archives, 2608, Collection Section Lists of inmates in the Buchenwald Camp, Germany.

Die enthaltenen Daten verdeutlichen die Schwierigkeiten im Umgang mit Dokumenten der KZ-Verwaltung. So sind für die Häftlinge die von ihnen angegebenen Berufe aufgeführt. Diese sind jedoch im Hinblick auf die Selektion in Auschwitz angegeben worden und entsprechen oftmals nicht den tatsächlichen Berufen der Personen. Der Beruf des Journalisten Dezső Schön ist etwa mit „Monteur“ angegeben. Auch Geburtsdaten sind teilweise bewusst falsch angegeben worden, um der Ermordung durch die SS zu entgehen. Moshe Shen, der Sohn von Dezső Schön, hatte sich als 20-Jähriger ausgegeben, obwohl er eigentlich erst 14 war, um als arbeitsfähig eingestuft zu werden. Die Listen wurden zudem in der Regel von anderen Häftlingen geführt, die in der Verwaltung eingesetzt wurden. Diese Häftlinge sprachen oft kein Ungarisch und waren ebenfalls den unmenschlichen Haftbedingungen unterworfen, die von ihnen geführten Dokumente deshalb oft fehlerhaft. Ein Vergleich der beiden Listen ergibt, dass von 298 Personen nur 62 mit identischen Namen und Daten geführt wurden. Insbesondere bei den ungarischen Vornamen wurde nur ein Bruchteil in gleicher Schreibweise festgehalten.

Nur weil die Gruppe isoliert und gemeinsam deportiert wurde, ist eine Zuordnung der unterschiedlichen Daten zu denselben Personen möglich. Bei anderen Häftlingen, die in der Regel über Stammlager, zum Beispiel Neuengamme, auf Außenlager verteilt wurden, ist eine Zuordnung unterschiedlicher Daten angesichts der lückenhaften Überlieferung oftmals sehr viel schwieriger. Neben Dokumenten, die vernichtet wurden, wurden insbesondere in den letzten Kriegsmonaten oftmals gar keine Verwaltungsunterlagen mehr geführt. So ist davon auszugehen, dass die Namen der Häftlinge aus Mittelbau-Dora, die im April in Bergen-Belsen ankamen, nicht mehr verzeichnet wurden. Das gleiche gilt für die Toten, die in diesem Zeitraum zum Beispiel beim Transport zu Tode kamen. Viele Opfer bleiben damit namenslos. Unser Wissen über die Routen, Arbeitseinsätze und Haftbedingung der Häftlinge verdanken wir vor allem den Berichten und Zeugnissen der Überlebenden.

Bibliografie

  • Randolph L. Braham (Hrsg.), The geographical encyclopedia of the Holocaust in Hungary, Vol. 1, Evanston 2013.
  • Manfred Grieger, „Rebstock" und „Rebstock (Stephan)“ - zwei Außenlager im Konzentrationslager-System bei Marienthal und Dernau, August bis Dezember 1944, Mainz 2021.
  • Hans Mommsen / Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.
  • Dezső Schön, As örökség- Elbeszélések, Tel Aviv 1960.
  • Moshe Shen, Überleben war für uns KZ-Häftlinge eine Frage der Zeit, in: Dieter Landenberger / Jens-Christian Gutzmann (Hrsg.), Überleben in Angst. Vier Juden berichten über ihre Zeit im Volkswagenwerk in den Jahren 1943 bis 1945, Wolfsburg Ausgabe 2023.
  • Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart / München 2001.
  • Therkel Stræde, Fallersleben (Volkswagenwerk), in: Geoffrey P. Megargee (Hrsg.), Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Vol. I., Bloomington 2009, S. 1107-1108.
  • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940-1945. Konzentrationslager 1943-1945. Displaced Persons Camp 1945-1950. Katalog der Dauerausstellung, Celle 2009.
  • Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Konzentrationslager Bergen-Belsen, online unter: https://bergen-belsen.stiftung-ng.de/de/geschichte/konzentrationslager-1943-1945 (letzter Zugriff 10.07.2024).
  • Jens-Christian Wagner (Hrsg.), Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945. Begleitband zur Ständigen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Göttingen 2007.
  • Jens-Christian Wagner, NS-Untertageanlagen und Gedenkstättenarbeit: Erfahrungen aus Mittelbau-Dora, in: Gedenkstätten-Rundbrief, 147 (2009), Seite 5-13.

Fußnoten

  1. Einen Überblick über das nationalsozialistische Zwangsarbeitssystem findet sich bei: Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart / München 2001.
  2. Vgl. Jens-Christian Wagner, NS-Untertageanlagen und Gedenkstättenarbeit: Erfahrungen aus Mittelbau-Dora, in: Gedenkstätten-Rundbrief, 147 (2009), S. 5-13. Eine Diskussion des Begriffes „Vernichtung durch Arbeit“ findet sich bei Spoerer, Zwangsarbeit, S. 180-183.
  3. Vgl. Hans Mommsen / Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 863-869. Eine Beschreibung aus der Sicht eines Überlebenden findet sich in: Dezső Schön, As örökség- Elbeszélések, Tel Aviv 1960.
  4. Vgl. für eine Darstellung der Verfolgung und Deportation in Nagyvárad und Oradea: Randolph L. Braham (Hrsg.), The geographical encyclopedia of the Holocaust in Hungary, Vol. 1, Evanston 2013, S. 233-242, 505-523.
  5. Vgl. die Angabe der Muttersprachen und Berichte über die Zusammensetzung der Gruppe in: VW-Konzernarchiv 67/149/1; Schön, As örökség.
  6. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk, S. 864-866.
  7. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk.
  8. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk.
  9. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk, S. 865; VW-Konzernarchiv 67/149/1.
  10. David Hollander: Interview 8342, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1995.
  11. Vgl. VW-Konzernarchiv 67/149/1.
  12. Vgl. VW-Konzernarchiv 67/65/1.
  13. Alex Rosenbaum: Interview 16411, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996.
  14. Vgl. VW-Konzernarchiv 67/149/1; Grieger / Mommsen, Volkswagenwerk, S. 867.
  15. Jens-Christian Wagner (Hrsg.), Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945. Begleitband zur Ständigen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Göttingen 2007.
  16. Vgl. Schön, As örökség, 1960.
  17. Vgl. VW-Konzernarchiv 67/65/1.
  18. Vgl. Wagner, NS-Untertageanlagen, S. 9.
  19. Stephan Grant: Interview 14925, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996; VW-Konzernarchiv 67/65/1; Schön, As örökség.
  20. Vgl. VW-Konzernarchiv 67/149/1; VW-Konzernarchiv 67/65/1.
  21. Moshe Shen, Überleben war für uns KZ-Häftlinge eine Frage der Zeit, in: Dieter Landenberger / Ulrike Gutzmann (Hrsg.), Überleben in Angst. Vier Juden berichten über ihre Zeit im Volkswagenwerk in den Jahren 1943 bis 1945, Wolfsburg Ausgabe 2023, S. 31-32.
  22. Vgl. Wagner, Konzentrationslager Mittelbau-Dora, S. 139-143.
  23. Vgl. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Bergen-Belsen, S. 238.
  24. Vgl. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Bergen-Belsen, S. 238; Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Konzentrationslager Bergen-Belsen, unter: https://bergen-belsen.stiftung-ng.de/de/geschichte/konzentrationslager-1943-1945/ (letzter Zugriff 10.07.2024).
  25. Vgl. Shen, Überleben, S. 32.
  26. Vgl. Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940-1945, Konzentrationslager 1943-1945, Displaced Persons Camp 1945-1950. Katalog der Dauerausstellung, Celle 2009, S. 200.
  27. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk.
  28. Vgl. Mommsen / Grieger, Volkswagenwerk, David Hollander: Interview 8342, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1995; Bernat Roth Interview 9295, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1995; Desider Davidovits: Interview 18755, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996; Mosche Friedman: Interview 18884, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996; Berti Burger: Interview 19539, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996; ´eli`ezer Farḳash: Interview 25903, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Nikolay Lebovics: Interview 26340, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Yitsḥaḳ Shamir: Interview 32225, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Ornan Lev-Ari: Interview 34492, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Yitsḥaḳ ´elefanṭ: Interview 38328, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Yitsḥaḳ Dove´: Interview 44636, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1998; George Moshe Stein: Interview 5756, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1995; Zoltan Marek: Interview 1767, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1995; Alex Rosenbaum: Interview 16411, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996; Ben-Zion Haas: Interview 26344, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1997; Stephan Grant: Interview 14925, Visual History Archive, USC Shoah Foundation 1996.
  29. VW-Konzernarchiv 67/422/1; Zugeteilte Häftlingsnummern des KZ Buchenwald für Zugänge aus den KZ Natzweiler (Außenlager Rebstock), 27.09.1944 und KZ Dachau, 30.09.1944, 1.1.27.1 2257001, ITS Digital Archive, Arolsen Archives, online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/topic/1-1-27-1_2257001?s=Rebstock (letzter Zugriff: 19.7.2024).

Zitierhinweis

Louis Wörner, Facharbeiter für Volkswagen, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/deportationen/gruppe-der-300. Lizenz: CC BY 4.0.