Biographien, Lager und Zwangsarbeit
Bereits vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten die Nationalsozialisten mit dem forcierten Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie begonnen. So waren allein von 1933 bis 1938 die Rüstungsausgaben von vier Prozent auf über die Hälfte des Staatshaushaltes gestiegen. Von diesem Rüstungsboom profitierten die deutschen Rüstungsunternehmen, die jedoch zunehmend mit einem Mangel an Arbeitskräften konfrontiert waren.1 Ab 1942 begannen die Nationalsozialisten, auch KZ-Gefangenen in der deutschen Kriegsindustrie einzusetzen. Ab 1944 wurden hierzu auch Häftlinge aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern im deutsch-besetzten Osteuropa an Industriestandorte ins Deutsche Reich deportiert. Die KZ-Häftlinge wurden in eigenen Lagern untergebracht, deren Bewachung weiterhin durch die SS organisiert wurde, die auch für die Arbeit der Häftlinge bezahlt wurde. Die Zwangsarbeit stellte für die Betriebe eine profitable Möglichkeit der Ertragsteigerung da, die mit der maximalen Ausbeutung der Arbeitskraft der unterernährten und ungeschützten Häftlinge einherging. 2
Als die Rüstungsproduktion 1944 ihren Höhepunkt erreichte, waren insgesamt 5,7 Millionen ausländische Zivilarbeiter, 1,9 Millionen Kriegsgefangene und etwa 400.000 KZ-Häftlinge an Produktionsstandorten im Deutschen Reich tätig und stellten knapp ein Viertel der Beschäftigten.3 Mit dem Vorrücken der Alliierten versuchten viele Rüstungsunternehmen, sich der Häftlinge wieder zu entledigen, nicht zuletzt um ihre Nachkriegsposition nicht zu gefährden. Die Räumung der Lager und der Abtransport der Häftlinge verlief dabei nicht einheitlich und war durch unterschiedliche Interessen der NS-Institutionen und die unübersichtliche Lage der letzten Kriegsmonate gekennzeichnet.4
Das nationalsozialistische Deutschland griff in hohem Maße auf Zwangsarbeit zurück um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken, allein im Deutschen Reich mussten während des Zweiten Weltkrieges über 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten. Zwangsarbeit wurde dabei in allen Industriezweigen aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gehörten insbesondere in den letzten Kriegsjahren zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland.
Die Draht- und Metallwarenfabrik in Salzwedel profitierte ebenfalls vom Deutschen Rüstungsboom, bereits 1937 war sie mit 600 Beschäftigten der größte Industriebetrieb in Salzwedel. Auch hier wurde auf ausländische Zwangsarbeiter zurückgegriffen.5 1944 wurde ein Lager, das bis dahin für osteuropäische Zwangsarbeiterinnen genutzt worden war, zu einem Außenlager des KZ Neuengamme umgestaltet.6 Im Spätsommer 1944 kam hier der erste Transport von weiblichen KZ-Häftlingen an, die in Auschwitz für die Arbeit selektiert worden waren. Die Gruppe bestand vor allem aus Jüdinnen, die erst kurz zuvor aus Ungarn oder den von Ungarn annektierten Gebieten deportiert worden waren.7 So war ein Teil der Frauen im Mai 1944 aus dem Ghetto der heute rumänischen Stadt Oradea nach Auschwitz deportiert worden. Viele der Frauen stammten aus dem heute zur Ukraine gehörenden Transkarpatien, das in der Zwischenkriegszeit der Tschechoslowakei zugesprochen und seit 1939 von der Ukraine besetzt worden war, beispielsweise aus der heute ukrainischen Stadt Tjatschiw.
Von 1938 bis 1941 annektierte das mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündete Ungarn größere Gebiete der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawien. Etwa 45 Prozent der jüdischen Bevölkerung des damaligen Ungarns lebten in diesen Gebieten, als das Land 1944 durch das nationalsozialistische Deutschland besetzt wurde.
Die ehemals tschechoslowakischen und rumänischen Gebiete Ungarns gehörten zu den ersten Gebieten, aus denen Jüdinnen und Juden ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Nicht alle von ihnen sprachen Ungarisch oder verstanden sich als Ungarn oder Ungarinnen, sie alle gehören jedoch zur Gruppe der aus Ungarn deportierten Juden und Jüdinnen.8
Die aus Ungarn deportierten Juden und Jüdinnen gehörten verschiedenen Gemeinden und religiösen Strömungen im Judentum an. Nicht alle definierten sich zwangsläufig selbst als jüdisch. Für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten war weder ihre Religion noch eine kulturelle Zugehörigkeit zum Judentum oder die Selbstzuschreibung entscheidend. Das Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung bildete ein rassistischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden nach ihrer Abstammung definierte. Auch Christen und Christinnen sowie Atheisten und Atheistinnen wurden unabhängig von ihrer Selbstdefinition oder kulturellen Zugehörigkeit durch die Nationalsozialisten als Juden verfolgt, wenn sie deren Abstammungskriterien entsprachen. Nicht alle hier als Jüdinnen und Juden bezeichneten Personen identifizierten sich selbst als jüdisch, sie alle wurden jedoch als jüdisch verfolgt.
Überlebende schätzten die Größe des ersten Transportes von Auschwitz nach Salzwedel auf etwa 500 Frauen.9 In der Folgezeit wurden weitere weibliche KZ-Häftlinge in das neue Außenlager deportiert. Die meisten dieser Frauen waren ebenfalls als Jüdinnen verfolgt worden und stammten aus Polen. Teile der Frauen kamen aber auch aus Italien, der Tschechoslowakei, Griechenland, den Niederlanden und Deutschland. In den späteren Transporten befanden sich aber ebenfalls wieder größere Gruppen von Frauen, die aus Ungarn deportiert worden waren. Auch die Frauen der späteren Transporte waren im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gewesen. Anders als der erste Transport waren sie aber nicht direkt nach Salzwedel, sondern zunächst in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert und dort für die Arbeit in Salzwedel ausgewählt worden.10
Das KZ Bergen-Belsen war 1943 zunächst als „Austauschlager“ für die Unterbringung jüdischer Geiseln gegründet worden. Schnell wurden ihm aber weitere Funktionen zugewiesen und ein Männer- sowie ein Frauenlager eingerichtet. Ab Ende 1944 wurde Bergen-Belsen Ziel vieler Todesmärsche und Räumungstransporte und entwickelte sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen zu einem Sterbelager. Nach der Befreiung wurde in Bergen-Belsen ein polnisches und ein jüdisches Displaced Persons-Camp eingerichtet.11
Wie viele Frauen insgesamt im KZ-Außenlager Salzwedel Zwangsarbeit leisten mussten, lässt sich nicht mehr ermitteln, erhaltene Unterlagen weisen jedoch mindestens 1.518 Frauen nach.12 Die Frauen sollten zusammen mit weiteren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, aber auch deutschen Zivilarbeitern die Produktion von Infanterie und Flakmunition in der Draht- und Metallwarenfabrik gewährleisten. Überlebende, wie Kornélia Weisz berichteten insbesondere von dem Kontakt und der Unterstützung durch französische Kriegsgefangene, vereinzelt aber auch von Unterstützung durch deutsche Zivilarbeiter.13 Die KZ-Häftlinge mussten wie in anderen Außenlagern in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten, die, wie Überlebende berichteten, lediglich durch eine 15-minütige Mittagspause unterbrochen wurden.14 Ferner erinnerten sich die Überlebenden, dass sie morgens eine Scheibe Brot und eine Tasse Kaffeeersatz erhielten, mittags eine vor allem aus Wasser bestehende Suppe und abends eine weitere Scheibe Brot. Ihren Berichten zufolge gab es für die circa 1.500 Frauen nur eine Toilettenbarracke.15 Die Versorgung entsprach damit der vieler Außenlager und führte bei den Häftlingen zur Entkräftung und der Verbreitung von Krankheiten. Zur Betreuung der Kranken war eine ungarische Jüdin eingeteilt, die jedoch lediglich acht bis zwölf Frauen im Krankenrevier aufnehmen durfte, wo sie zumindest zeitweise von der Arbeit freigestellt waren. Einige erkrankte Frauen wurden auch ins Stadtkrankenhaus gebracht, wo sie allerdings keine Behandlung erhielten, sondern lediglich die Möglichkeit, sich auszukurieren. Schwerkranke Häftlinge wurden auch nach Bergen-Belsen deportiert. Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Frauen dort ermordet wurden.16
Überlebenden zufolge sei seit Beginn des Jahres 1945 zunehmend kein Material in der Fabrik mehr vorhanden gewesen und die Zivilarbeiter nicht mehr erschienen. Die Überlebende Mina Rapport berichtete ferner, dass ein deutscher Vorarbeiter sie vor dem baldigen Kriegsende warnte, da er die Ermordung der Häftlinge vor der Befreiung fürchtete.17 Vermutlich Ende März 1945 wurde die Arbeit eingestellt. Kurz darauf verdoppelte sich die Anzahl der Frauen nahezu, als Transporte aus anderen KZ-Außenlagern, die geräumt worden waren, in Salzwedel ankamen. Die neu hinzukommenden Frauen hatten zuvor bereits verschiedene nordwestdeutsche Außenlager überlebt und kamen vor allem aus den Außenlagern Porta Westfalica-Hausberge und Fallersleben.
1944 wurde ein Lager, das bis dahin für osteuropäische Zwangsarbeiterinnen genutzt worden war, zu einem Frauenaußenlager des KZ Neuengamme umgestaltet. Die etwa 1.500 Häftlinge mussten Zwangsarbeit in einem Rüstungsunternehmen leisten. Am 14. April 1945 konnten amerikanische Truppen das Lager befreien, in das zuvor noch Häftlinge anderer Außenlager deportiert worden waren.
Das Frauenaußenlager Porta Westfalica-Hausberge wurde im Februar 1945 eingerichtet. Die etwa 1.000 Häftlinge mussten Radioröhren für die Firma Philipps und ihre Tochterfirmen herstellen. Im Januar 1945 wurde das Lager geräumt und die Häftlinge in verschiedene andere Außenlager, unter anderem nach Fallersleben, deportiert.
Ein Teil der Frauen, die bereits in einem Außenlager des KZ Groß-Rosen Radioröhren hatten produzieren müssen, war im Januar 1945 angesichts der sich nähernden sowjetischen Armee zunächst zu Fuß und anschließend mit einem Güterzug nach Porta Westfalica deportiert worden. Während dieses Transportes waren die Frauen kaum mit Lebensmitteln versorgt worden. Ein anderer Teil der Frauen in Porta Westfalica kam aus dem Außenlager Horneburg im Umland von Hamburg, wo sie ebenfalls zur Produktion von Radioröhren herangezogen worden waren. Sie waren in Auschwitz für den Arbeitseinsatz ausgewählt worden und befanden sich ab Oktober 1944 in Horneburg, bis sie im Februar 1945 nach Porta Westfalica-Hausberge deportiert wurden. Alle Überlebenden beschreiben die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Außenlager Porta Westfalica-Hausberge als äußerst grausam und brutal. Da auch im Westen die Alliierten vorrückten, wurde das Lager am 1. April 1945 geräumt und die Frauen erneut deportiert. Ein Teil der Häftlinge kam dabei ins Außenlager Fallersleben im heutigen Wolfsburg.18
Das Frauenaußenlager Porta Westfalica-Hausberge wurde im Februar 1945 eingerichtet. Die etwa 1.000 Häftlinge mussten Radioröhren für die Firma Philipps und ihre Tochterfirmen herstellen. Im Januar 1945 wurde das Lager geräumt und die Häftlinge in verschiedene andere Außenlager, unter anderem nach Fallersleben, deportiert.
Das Frauenaußenlager Fallersleben war wie das Außenlager Salzwedel im Spätsommer 1944 eingerichtet worden. Die ersten Häftlinge waren ebenfalls Jüdinnen, die aus Ungarn nach Auschwitz deportiert und zeitgleich zu den Frauen in Salzwedel von der SS für einen Arbeitseinsatz ausgewählt worden waren.19 Neben diesen ebenfalls circa 500 Frauen des ersten Transportes kamen auch hier weitere Frauen aus Bergen-Belsen an, so dass die Belegschaft des Lagers aus mindestens 650 Frauen bestand. Die Frauen waren im VW-Werk in der Nähe von Fallersleben, im heutigen Wolfsburg, in Waschkauen untergebracht. Auf dem Gelände war zuvor eine Gruppe von 300 jüdischen Männern untergebracht gewesen, die ebenfalls aus Ungarn deportiert worden waren. Die Frauen mussten im VW-Werk in Zwölf-Stunden-Schichten Tellerminen und Panzerfäuste produzieren. Die Versorgung entsprach der anderer Außenlager. Da die Frauen direkt im Werk untergebracht waren, sahen sie während ihrer Zeit hier kein Tageslicht.
Bei den Beschreibungen von Fallersleben durch Überlebende wie Edréne Kovács muss berücksichtigt werden, dass sie ihre Haft dort vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Auschwitz bewerteten. Nur so lässt sich einordnen, warum sie die trockenen Unterkünfte und die Duschräume betonten, die die Möglichkeit für ein zumindest geringes Maß an Körperpflege geboten hätten.20 Im März 1945 kamen etwa 200 Frauen aus dem Außenlager Porta Westfalica-Hausberge in Fallersleben an. Die Überlebende des Außenlagers Fallersleben Hanna Mandel berichtete, wie bedrückt sie vom Zustand dieser Frauen bei ihrer Ankunft in Fallersleben gewesen war, und dass unter ihnen Panik ausgebrochen sei, als sie ebenfalls zu den Duschen geführt wurden. Die Frauen, die Auschwitz überlebt hatten, befürchteten, nun kurz vor Kriegsende noch durch Giftgas ermordet zu werden zu werden.21
Gemeinsam wurden die Frauen aus den Außenlagern Fallersleben und Porta Westfalica-Hausberge erneut deportiert. Durch die Ankunft der aus den anderen Außenlagern geräumten Frauen erhöhte sich die Anzahl der Häftlinge in Salzwedel auf circa 3.000 Frauen.22 Die Versorgungssituation verschlechterte sich dadurch noch einmal, Überlebende berichteten, dass die Lebensmittelausgabe eingestellt worden sei. Die Frauen hungerten und ernährten sich teilweise von rohen Rüben.23 Fast alle Überlebenden bezeugten, dass in den letzten Tagen vor der Befreiung die Sorge vor einer gezielten Ermordung der Häftlinge durch eine Sprengung des Lagers bestand. Mehrere Überlebende wie beispielsweise Fela Gastwirth berichteten, dass dies durch die in unmittelbarer Nähe des Außenlagers untergebrachten französischen Kriegsgefangenen verhindert worden sei, die von dem Plan erfahren hätten und daraufhin die Stromversorgung unterbrochen hätten.24 Der Überlebenden Eva Braun zufolge, hätten die französischen Kriegsgefangenen auch das Lager umstellt und der SS gedroht.25 Auch die Überlebende Hanna Mandel erinnerte, dass sie von französischen Kriegsgefangenen gewarnt worden sei, dass das Lager angezündet werden solle. In ihrer Baracke hatten die Frauen daraufhin mehrere Bretter gelockert und einen Wachdienst an Astlöchern eingerichtet, um, falls die Baracke in Brand gesetzt werden würde, rechtzeitig die Wände rauszuschlagen und einen Ausbruchsversuch unternehmen zu können. Dazu sei es aber nicht gekommen.26
Einige Frauen berichteten auch, dass der Kommandant des Lagers sich geweigert hätte, die Häftlinge vor der Befreiung zu ermorden. Die Überlebende Rose Brewster verwies allerdings auch darauf, dass dieser sich zuvor von den verantwortlichen Häftlingsvertretern im Gegenzug das Versprechen habe geben lassen, nach der Befreiung positiv über ihn auszusagen.27
Am 14. April 1945 wurde das Lager durch amerikanische Truppen befreit. Nur wenige Kilometer entfernt hatten SS, Wehrmacht und Volksturmeinheiten sowie Hitlerjungen am Tag zuvor 1.061 männliche KZ-Häftlinge beim Massaker von Gardelegen in einer Scheune verbrannt.
In der Endphase des Krieges wurden etliche Konzentrationslager und KZ-Außenlager durch die Nationalsozialisten vor der Ankunft der sich nähernden Alliierten geräumt. Die Häftlinge wurden entweder in Güterwaggons, selten in Lastwagen transportiert oder unter Misshandlungen gezwungen, zu Fuß in weiterhin unter deutscher Kontrolle stehende Gebiete zu marschieren. Während der oft tage-, teilweise auch wochenlang dauernden Märsche wurden die Häftlinge in der Regel kaum versorgt, viele von ihnen verhungerten oder verdursteten in den Güterwaggons, viele brachen während der Märsche aufgrund der Erschöpfung zusammen oder wurden durch die SS oder andere wachhabende Einheiten ermordet. Durch die Überlebenden wurde deshalb für diese Räumungen der Begriff „Todesmarsch“ geprägt. Teile der Todesmärsche endeten in der gezielten Ermordung der Häftlinge, von denen das sogenannte „Massaker von Gardelegen“ eines der bekanntesten ist. Über 1.000 Häftlinge aus Außenlagern des KZ Neuengamme und des KZ Mittelbau-Dora wurden dort in einer Feldscheune zusammengetrieben, die von der SS und weiteren NS-Organisationen in Brand gesetzt wurde.28
Die Überlebende Gabriella Goitein berichtete:
„Und dann haben die gesagt, wir können gehen. Wir sind gegangen diesen Weg, und es war ein Friedenstag und Sonne war da. Und die Franzosen, die Kriegsgefangenen, die Franzosen, die haben uns zu sich in ihr Lager geholt, und wir saßen bei langen Tischen, und die haben irgendwie […] beschaffen Brot und Eier. Und die hatten solche großen Pfannen gehabt und die Eier gebrochen auf die Pfanne und gemischt. Wir saßen da, und ich habe gegessen Brot mit Ei. Das war meine Befreiung.“29
Viele Überlebende wie beispielsweise Kornélia Weisz berichteten, dass die amerikanischen Soldaten, die entsetzt von der Versorgung und Ausstattung der Frauen waren, diese aufforderten, sich selbst in der Stadt zu versorgen.30 Viele der befreiten KZ-Häftlinge hätten daraufhin das Lager verlassen und seien in die Kleinstadt gezogen, wo sie Lebensmittel und Klamotten geplündert hätten. Die Überlebende Sándorné Margit Less erzählte:
„Dann waren die Tore offen, wir sind herausgelaufen, eine nach der anderen. Wir wußten nicht, was wir machen sollten. Wir hatten keine normale Kleidung. Wir waren schmutzig, voller Läuse. In den letzten Wochen hatten wir nichts zu essen bekommen, nicht einmal diese dünne Rübensuppe. Essen, essen war das Einzige, woran wir gedacht haben. Wir sind nach der Befreiung in eine Molkerei gekommen. Hier waren viele verschiedene Milchwaren […]. Eine Frau hat einen Soldatenhelm gefunden und hat ihn in Milch getaucht, aber diese Helme hatten Löcher, und zu beiden Seiten ist die Milch herausgeflossen. Sie hat getrunken, getrunken, und die Milch ist herausgeflossen. Dieses Bild steht mir vor Augen.“31
Neben der Plünderung von Geschäften und zum Beispiel Stoff in einem Kaufhaus kamen die befreiten Frauen dabei auch in Kontakt mit der Salzwedeler Zivilbevölkerung. Auch wenn einige Frauen sich erinnerten, dass sie zunächst von Rachegefühlen getrieben gewesen wären und die Überlebende Klári Sztehlo berichtete, dass die Einwohner und Einwohnerinnen Angst vor den befreiten KZ-Häftlinge gehabt hätten, finden sich keine Hinweise auf Gewalttaten.32 Noch Jahre nach der Befreiung finden sich aber in einer Stadtchronik Formulierungen, die vor allem den Schaden der ungeregelten Plünderung für die Salzwedeler und Salzwedelerinnen hervorheben, ohne Verständnis für die Häftlinge und ihre Situation zu haben.
Die befreiten Häftlinge wurden zunächst in ehemaligen Kasernen auf dem Flugplatz Salzwedel untergebracht, wo die hungernden und häufig kranken Frauen wieder zu Kräften kommen sollten. Ein Teil von ihnen verstarb jedoch nach der Befreiung noch an den Haftfolgen. Ihre Gräber befinden sich bis heute in Salzwedel. Ein Teil der befreiten Frauen kehrte nach einiger Zeit in ihre Herkunftsorte zurück, deren nationale Zugehörigkeit sich im Falle der Frauen aus Transkarpatien und den ehemals rumänischen Gebieten erneut geändert hatte. Während ersteres Teil der Sowjetunion wurde, wurden die anderen Gebiete wieder Teil Rumäniens. Nicht wenige der überlebenden Frauen entschieden sich gegen eine Rückkehr und verblieben zunächst als sogenannte „Displaced Persons“ (DP) unter der Versorgung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), einer Hilfsorganisation der UN, bis sie ins westliche Ausland oder in das unter britischer Mandatsherrschaft stehende Palästina, den zukünftigen Staat Israel auswanderten.
Unmittelbar nach der Befreiung wurde eine erhaltene Liste der befreiten Frauen mit deren letzten Wohnorten angelegt. Für das KZ-Außenlager Salzwedel sind damit zumindest die Namen der überlebenden Frauen ebenso wie deren Herkunftsorte bekannt.33 Dies ist ein großer Unterschied zu anderen Außenlagern, deren überlebende Häftlinge in der Regel an anderen Orten befreit wurden, wodurch nur sehr begrenzte Rückschlüsse auf die Haftorte möglich sind.
Der Großteil der Unterlagen der Verwaltung der Neuengammer Außenlager wurde vor der Befreiung vernichtet. Lediglich eine Aufstellung des SS-Standortarztes in Neuengamme über die Belegung der Außenlager im März 1945 dokumentiert die Anzahl der Häftlinge zu diesem Zeitpunkt. Auch wenn sich damit Rückschlüsse auf die Größe des Außenlagers ziehen lassen, bleiben die Quellen der nationalsozialistischen Konzentrationslagerverwaltung der Perspektive der Täter verhaftet, die die Häftlinge ihrer Menschlichkeit und Individualität beraubte und zu Verwaltungsherausforderungen reduzierte. Aus dieser Täterquelle ergeben sich keine Einblicke in die biografischen Hintergründe der Häftlinge oder deren individuelle Lebensbedingungen. Über die Häftlinge und ihre alltägliche Erfahrung in den KZ-Außenlagern lässt sich in diesen Quellen nichts erfahren. Auch andere Quellen geben nur bruchstückhaft Aufschluss über die Lebensrealität und Hintergründe der Häftlinge. Bis in die 1990er-Jahre war das öffentlich verfügbare Wissen um das Außenlager Salzwedel äußerst gering. Zu DDR-Zeiten war bereits ein kleines Modell des Lagers im Johann-Friedrich Danneil Museum ausgestellt sowie eine Broschüre veröffentlicht worden, die jedoch auf die Solidarität einiger deutscher Arbeiter mit den Verfolgten fokussiert war. Erst in den 1990er-Jahren erschienen erste umfassendere Darstellungen, die vor allem auf den Unterlagen der britischen Besatzungsbehörden beruhten, die Ermittlungen gegen das Wachpersonal begonnen und in diesem Zuge auch Überlebende befragt hatten. Zwar konnte kein Wachpersonal verurteilt werden, die Unterlagen sind jedoch erhalten und bilden heute eine wichtige Quelle für die historische Forschung.34Im Rahmen der Erinnerungsarbeit wurden ab 1996 zudem mehrfach überlebende Frauen von der Stadt Salzwedel eingeladen und in diesem Zuge auch zu ihrer Haftzeit interviewt.35 Die 50 Jahre nach der Befreiung geteilten Erinnerungen der Frauen sind durch Verdrängung, Vergessen, aber auch den Austausch mit anderen geformt. Zudem prägt nicht zuletzt auch die Interviewsituation selbst das Erzählte und Nicht-Erzählte. Dennoch bilden die Erinnerungsberichte eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte des Außenlagers Salzwedel. Die aus Polen stammende Überlebende Kitty Hart-Moxon hat zudem bereits in den 1960er-Jahren begonnen, öffentlich über ihre Zeit im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz sowie in verschiedenen KZ-Außenlagern – darunter auch Salzwedel – zu publizieren. Aufbauend auf im Verlauf von zehn Jahren geführten Gesprächen zwischen dem Theologen Norbert Rech und der ungarischen Überlebenden Hanna Mandel erschien 2008 ebenfalls ein Buch über ihr Leben.36
Es sind diese Berichte der Überlebenden, auf denen die Forschung, aber auch die Erinnerung und das Gedenken an das Außenlager Salzwedel aufbaut.
Louis Wörner, Die Befreiung des Außenlagers Salzwedel, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/deportationen/salzwedel. Lizenz: CC BY 4.0.