Biographien, Lager und Zwangsarbeit
Mit dem Vormarsch der Alliierten wurden ab Mitte 1944 auch die ersten Konzentrationslager befreit. Bevor alliierte Truppen die Lager erreichen konnten, versuchte die SS jedoch Spuren zu vernichten und die Häftlinge in Konzentrationslager zu deportieren, die weiter entfernt vom Frontverlauf lagen.1 Ab Januar 1945 begannen auch in Nordwestdeutschland die Planungen für die Räumung der Außenlager. Dabei spielten zum einen die Interessen der Unternehmen eine Rolle, die bei der bald erwarteten alliierten Einnahme ihrer Betriebe Aufstände der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen verhindern, als auch den eigenen Ruf bei der zukünftigen Besatzungsmacht nicht durch die Anwesenheit der unterernährten und menschenunwürdig behandelten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gefährden wollten.2 Zum anderen versuchten staatliche Stellen und die SS die Befreiung der Häftlinge zunächst zu verhindern, insbesondere um eine Befreiung der Häftlinge im Verantwortungsbereich der größeren Städte zu verhindern, auch mit Blick auf das Verhältnis zur zukünftigen Besatzungsmacht.3 Ende März wurde deshalb mit der Räumung der Außenlager des KZ Neuengamme begonnen, ab Mitte April auch mit der Räumung des Stammlagers. In den folgenden Wochen bis zur Befreiung starben noch mindestens 30 Prozent der Häftlinge, von denen nur die wenigsten Namen bekannt sind. Die SS verbrannte zu dieser Zeit in allen Lagern Unterlagen und registrierte die Toten auf den Transporten und in den Auffanglagern nicht mehr.4
Auch in der Nähe des Ortes Lübberstedt nördlich von Bremen war ein Außenlager des KZ Neuengamme eingerichtet worden. In einem Forstgebiet direkt an einer Bahnstrecke befand sich während des Zweiten Weltkrieges eine Munitionsanstalt (Muna) der deutschen Luftwaffe. In Munitionsanstalten wurden Kampfmittel und Munition aus Zwischenprodukten zusammengesetzt und gelagert. Der umfassende Einsatz von Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsindustrie betraf auch die Arbeit in den Munitionsanstalten. So mussten in der Muna Lübberstedt osteuropäische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte sowie KZ-Häftlinge in der Rüstungsproduktion arbeiten.5 Letztere kamen im Sommer 1944 aus Auschwitz, wohin sie fast alle kurz zuvor aus Ungarn deportiert worden waren. Vermutlich die Mehrheit von ihnen stammte aus Transkarpatien, das erst 1939 von Ungarn annektiert worden war.6 In Auschwitz waren sie von ihren Verwandten und Freunden getrennt worden, von denen die Mehrheit direkt durch die SS ermordet wurde.
Das nationalsozialistische Deutschland griff in hohem Maße auf Zwangsarbeit zurück um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken, allein im Deutschen Reich mussten während des Zweiten Weltkrieges über 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten. Zwangsarbeit wurde dabei in allen Industriezweigen aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt. Die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gehörten insbesondere in den letzten Kriegsjahren zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland.
Überlebende des Transportes nach Lübberstedt berichteten später, dass der in Auschwitz zusammengestellte Transport zunächst nicht abfahren konnte und die Häftlinge zurück in ihre Barracken geführt wurden, wo sie sich auskleiden mussten. Unklar ist, was die Absicht der SS war. Die überlebenden Häftlinge, die zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach Massentötungen mitbekommen hatten, erinnerten sich, dass sie befürchteten, nun doch ermordet zu werden. Schließlich wurden sie jedoch aufgefordert, sich erneut anzukleiden und einen bereitstehenden Güterzug zu besteigen. Ein Teil des Güterzuges wurde in das Außenlager Salzwedel gebracht, 500 Frauen nach Lübberstedt.7
Wie auch in anderen Außenlagern betonten Überlebenden im Nachhinein die Verbesserung, die die Verlegung in ein Außenlager gegenüber dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz geboten hätte. Im Falle des Außenlagers Lübberstedt machten sie dies an einer eigenen Pritsche mit einer Decke und Stroh sowie einem Löffel und Teller fest. Die Versorgung der Häftlinge war aber auch hier menschenunwürdig und lebensbedrohlich. Die nur mit dünner Häftlingsbekleidung und Holzschuhen versorgten Frauen bekamen durchgehend zu wenig Lebensmittel und mussten zugleich körperlich stark fordernde Arbeit in der Munitionsfabrik leisten. Auch im Außenlager Lübberstedt gab es nur ein kleines Krankenrevier, in dem zudem keine medizinische Versorgung möglich war. Da die Frauen zudem eine Selektion der Arbeitsunfähigen fürchteten, berichteten mehrere Frauen in lebensgeschichtlichen Interviews, dass sie sich auch bei Krankheiten und Entzündungen nicht krankmeldeten. Für das Außenlager ist der Tod von mindestens fünf Häftlingen bekannt.8 In mindestens drei Fällen berichteten Überlebende von Misshandlungen durch die weiblichen Aufseherinnen, die zum Tod der Häftlinge geführt hätten. So berichtete beispielsweise die Überlebende Eszter Rosenfeld, dass ihre Bettnachbarin Sari Katz, die nicht zum Morgenappell erscheinen konnte, durch das Wachpersonal zu Tode geprügelt worden sei.9 Wie auch in anderen Frauenaußenlagern wurde die Bewachung des Lagers nicht ausschließlich durch die SS, sondern auch durch bei ihnen angestellte Aufseherinnen im Inneren des Lagers und Wehrmachtssoldaten für die äußere Bewachung übernommen.10
Nachdem die Bremer und Hamburger Außenlager bereits Anfang April geräumt worden waren und die Häftlinge insbesondere in das Auffanglager Bergen-Belsen deportiert wurden, erhielt auch der Lagerkommandant des Außenlagers Lübberstedt-Bilohe am 18. April den Befehl, das Lager zu räumen.11 Während die Lager im Stadtbereich vermutlich auf Druck der Stadtverwaltungen, die um ihre Nachkriegsposition besorgt waren, früher geräumt wurden, sollten nun auch die Häftlinge der Munitionsanstalt vor einer Befreiung des Gebietes abtransportiert werden. Bereits zuvor waren etwa 60 kranke Frauen nach Bergen-Belsen deportiert worden.12
Das KZ Bergen-Belsen war jedoch schon am 16. April 1945 durch die aus dem Südwesten vorstoßenden Alliierten befreit worden. Anders als die vorher geräumten Lager in der Region wurden die Häftlinge des Außenlagers Lübberstedt daher Richtung Bremen, Hamburg und schließlich Schleswig-Holstein deportiert.
Die Häftlinge aus Lübberstedt berichteten später, dass sie in Gruppen von 50 bis 80 Frauen in Güterwaggons geladen worden seien, an die Züge seien auch mehrere Waggons mit Munition angehängt worden. Die Aussagen der Überlebenden und Angaben in weiteren Quellen widersprechen sich jedoch, so dass es wahrscheinlich ist, dass die Häftlinge in zwei Transporten abtransportiert wurden, die nach einiger Zeit wieder zusammengeführt wurden.13 Alle Überlebenden berichteten von dem großen Hunger aufgrund der extrem reduzierten Versorgung mit Lebensmitteln während der über zwei Wochen dauernden Fahrt. Da Militärtransporte Vorrang hatten und viele Gleisanlagen zerstört worden waren, hielt der Zug immer wieder für längere Zeit an, in einigen Fällen sogar für zwei Tage.14 Zudem änderten sich für viele Häftlingstransporte die Ziele während der Fahrt, da ihre ursprünglichen Ziele zwischenzeitlich durch die Alliierten befreit worden waren. Es lässt sich nicht zweifelsfrei nachvollziehen, welches Ziel der Transport der Häftlinge aus Lübberstedt ursprünglich hatte. Es ist aber zu vermuten, dass er die Häftlingsschiffe in der Lübecker Bucht zum Ziel hatte. Auch die Überlebenden vermuteten dies im Nachhinein.15
Das KZ Bergen-Belsen war 1943 zunächst als „Austauschlager“ für die Unterbringung jüdischer Geiseln gegründet worden. Schnell wurden ihm aber weitere Funktionen zugewiesen und ein Männer- sowie ein Frauenlager eingerichtet. Ab Ende 1944 wurde Bergen-Belsen Ziel vieler Todesmärsche und Räumungstransporte und entwickelte sich aufgrund der katastrophalen Bedingungen zu einem Sterbelager. Nach der Befreiung wurde in Bergen-Belsen ein polnisches und ein jüdisches Displaced Persons-Camp eingerichtet.16
In der Endphase des Krieges wurden etliche Konzentrationslager und KZ-Außenlager durch die Nationalsozialisten vor der Ankunft der sich nähernden Alliierten geräumt. Die Häftlinge wurden entweder in Güterwaggons, selten in Lastwagen transportiert oder unter Misshandlungen gezwungen, zu Fuß in weiterhin unter deutscher Kontrolle stehende Gebiete zu marschieren. Während der oft tage-, teilweise auch wochenlang dauernden Märsche wurden die Häftlinge in der Regel kaum versorgt, viele von ihnen verhungerten oder verdursteten in den Güterwaggons, viele brachen während der Märsche aufgrund der Erschöpfung zusammen oder wurden durch die SS oder andere wachhabende Einheiten ermordet. Durch die Überlebenden wurde deshalb für diese Räumungen der Begriff „Todesmarsch“ geprägt. Teile der Todesmärsche endeten in der gezielten Ermordung der Häftlinge, von denen das sogenannte „Massaker von Gardelegen“ eines der bekanntesten ist.17
Nachdem die SS auf Druck der Hamburger Wirtschaft und Politik auch die Räumung des Hauptlagers Neuengamme beschlossen hatte, wurden zwischen dem 20. und 26. April etwa 9.000 Häftlinge in Güterzügen nach Lübeck gebracht. Etwa 7.000 von ihnen wurden dort auf die in der Lübecker Bucht liegenden Frachtschiffe „Athen“, „Thielbeck“ und „Elmenhorst“ sowie den manövrierunfähigen Luxusliner „Cap Arcona“ gebracht. Da die Schiffe für die Anzahl der Häftlinge nicht ausgelegt waren und auch nicht genügend Lebensmittel an Bord gebracht wurden, war die Lage für die Menschen in den Laderäumen katastrophal. Am 2. Mai wurde Lübeck von britischen Truppen befreit, einen Tag später wurden die Schiffe durch die britische Luftwaffe, die Truppentransporte in der Ostsee zum Ziel hatte, bombardiert. Dabei wurden die „Cap Arcona“ und die „Thielbeck“ getroffen und sanken. Von den circa 7.000 Häftlingen, die sich zu diesem Zeitpunkt auf den beiden Schiffen befanden, überlebten nur circa 400 den Angriff. Während Überlebende vermuteten, dass eine Sprengung der Schiffe zur Ermordung der Häftlinge von vornherein durch die SS vorgesehen gewesen war, gehen Forschende inzwischen davon aus, dass die Häftlinge auf den Schiffen lediglich untergebracht werden sollten.18
Am 1. oder 2. Mai 1945 erreichte der Zug aus Lübberstedt ebenfalls Lübeck, doch statt einer Verladung auf die Schiffe hielt der Zug laut Überlebenden erneut für längere Zeit vor der Stadt. Die Überlebende Malvin Grünberger berichtete in einem Gruppeninterview, dass das Schiff, das die Häftlinge aufnehmen sollte, bereits abgelegt hatte, und die Häftlinge in Tränen ausgebrochen seien, als sie davon erfahren hätten.19 Sie hätten gehofft, mit den Schiffen nach Dänemark gebracht zu werden. Andere Überlebende berichteten, dass sie von einer Aufseherin gewarnt worden seien, die Schiffe zu besteigen.20 Es lässt sich nicht ermitteln, auf welches Schiff die Häftlinge gebracht werden sollten und warum die SS diesen Plan nicht durchführte. Die letzten Häftlingsschiffe verließen am 2. Mai den Hafen von Lübeck. In den Tagen zuvor hatte sich der Kapitän der „Cap Arcona“ Heinrich Bertram aber, auch Kapitäne anderer Schiffe wiederholt geweigert, weitere Häftlinge aufzunehmen.21 Es lässt sich deshalb nicht nachvollziehen, ob die Frauen aus Lübberstedt nicht verladen wurden, da ihr Schiff bereits abgelegt hatte, bereits überfüllt war oder der Zug aufgrund der britischen Umschließung der Stadt nicht mehr zum Lübecker Hafen gelangte.
Während im Laufe des 2. Mai Lübeck von den britischen Truppen befreit wurde, setzte sich der Zug mit den Häftlingen erneut in Bewegung und fuhr von Lübeck aus weiter Richtung Norden. Noch am selben Tag wurde der Zug zweimal von britischen Fliegern angegriffen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Briten gezielt Bahnanlagen und Bahnhöfe, aber auch Güterzuge unter Beschuss.22 Wie auch bei der „Cap Arcona“ war ihnen nicht bewusst, dass KZ-Häftlinge transportiert wurden. Beim zweiten Angriff wurde der Zug getroffen. Überlebende berichteten später davon, dass der Zug in Brand geriet, aber auch, dass die Wachmannschaften auf die flüchtenden Häftlinge schossen. Mindestens 38 Frauen kamen bei dem Angriff direkt zu Tode, nach Schätzungen von Überlebende waren es 60 bis 80 Tote.23 Nachdem der zerstörte Waggon abgekoppelt und mit den Verletzten zurückgelassen worden war, setzte der Zug sich in der Nacht erneut in Bewegung. Der zurückgelassene Waggon wurde am Morgen des 3. Mai von örtlichen Stellen gefunden, die mindestens 18 Verletzten ins Eutiner Lazarett eingeliefert, wo fünf von ihnen ihren Verletzungen erlagen. Sie wurden auf dem Friedhof der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Eutin beerdigt, während die an Ort und Stelle verstorbenen Frauen in einem Massengrab an der Bahnstrecke beerdigt wurden.
Hinter Timmdorf wurde der Zug noch einmal von britischen Fliegern beschossen. Erneut verloren dabei 16 Frauen ihr Leben. Die Überlebenden weigerten sich anschließend, den Zug wieder zu besteigen und wurden zu Fuß nach Plön geführt. Die Überlebende Malvin Grünberger schilderte, dass sie dabei mehrfach gehört hätten, dass der Krieg vorbei sei.24 Mehrere Überlebende erinnerten sich, wie die Häftlinge sich auch in Plön geweigert hätten, den nachgekommenen Zug zu besteigen.25 Einige der Überlebenden berichteten in Interviews, dass ihnen auch die Wehrmachtssoldaten, die die Munitionswaggons bewachen sollten, zur Flucht rieten. Durch die Soldaten hätten die Frauen auch von Plänen, den Zug mit ihnen zusammen zu sprengen erfahren, was ihren Widerstand verstärkt hätte.26 Auch der Kontakt mit bereits befreiten sowjetischen Kriegsgefangenen habe die Frauen in der Erwartung eines baldigen Kriegsendes bestärkt. Nachdem am 4. Mai ein erstes britisches Spähfahrzeug in Plön gesichtet wurde, seien die Wachmannschaften geflohen.27 Einigen Überlebenden zufolge, seien sie am nächsten Tag jedoch zurückgekehrt, um erneut zu versuchen, die Frauen in die Waggons zu zwingen. Die Überlebende Eszter Rosenfeld erinnerte sich, dass diese Versuche nicht zuletzt deshalb misslangen, weil die SS-Leute in Erwartung der baldigen britischen Gefangenschaft bereits ihre Waffen weggeschmissen hätten.28 Es lässt sich nicht ermitteln, welches Ziel die SS mit dem weiteren Transport der Häftlinge verfolgte. Auch in Norddeutschland kam es zu mehreren Massakern an KZ-Häftlingen, die vor ihrer möglichen Befreiung durch die Nationalsozialisten ermordet wurden. Die Strecke war aber zuvor auch für Transporte mehrerer tausend weiblicher KZ-Häftlinge genutzt worden, die dem Roten Kreuz übergeben worden waren.29 Ob dies auch für die Häftlinge aus Lübberstedt vorgesehen war, ist unklar.
Katharina Hardy – Fokus „DP-Camp Bergen-Belsen“
Gyula Fürst – ein ungewöhnlicher Deportationsweg
Ab dem 3. April 1945 wurden mehr als 2.000 skandinavische KZ-Häftlinge an das schwedische Rote Kreuz übergeben und nach Dänemark evakuiert. Dies war das Ergebnis von Geheimverhandlungen zwischen dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes Graf Folke Bernadotte und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler sowie dem Chef des Reichsicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner, in deren Folge sich Himmler im Februar 1945 zunächst zur Zusammenführung der skandinavischen Häftlinge im Stammlager des KZ Neuengamme und anschließend zu deren Freilassung bereit erklärt hatte. Hintergrund dieser Verhandlungen waren die Versuche Himmlers, eigenmächtig einen Waffenstillstand mit den westlichen Alliierten zu erreichen. Als das Stammlagre Neuengamme am 20. April 1945 geräumt wurde, wurden auch die übrigen 4.200 skandinavischen Häftlinge, die sich noch im Lager befanden, durch das Rote Kreuz in speziell gekennzeichneten Bussen nach Dänemark gebracht. In weiteren Verhandlungen gelang es dem Roten Kreuz, auch die Freilassung von etwa 15.000 weiblichen Häftlingen aus dem KZ Ravensbrück und aus Hamburger Außenlagern genehmigt zu bekommen, darunter auch über Tausend Jüdinnen. Diese wurden in Güterzügen, teilweise über Plön, nach Dänemark gebracht.30
Nachdem die Wachmannschaften sich entfernt hatten, verbrachten die ehemaligen Häftlinge noch einige Tage versteckt in einem Wald, wobei sie sich durch Betteln in den umliegenden Dörfern versorgten. Auch Zeitzeugen aus der Region erinnerten sich nach der Befreiung an die Frauen.31 Erst mit der Ankunft der britischen Armee am 8. Mai in Plön und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands trauten sich die befreiten Frauen aus ihrem Versteck. „Die Engländer befreiten uns, und wir konnten beginnen, wieder als Menschen zu leben“, erinnerte sich später die Überlebende Hajnal Kaufmann.32 Die befreiten Frauen wurden anschließend im DP-Lager Haffkrug in der Lübecker Bucht untergebracht. Dort hatten die Briten ein Dorf geräumt, um die befreiten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen der unterschiedlichsten Nationalitäten bis zu ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsländer oder ihrer Emigration versorgen zu können. Überlebende beschrieben, wie sie im DP-Lager wieder zu Kräften kamen, aber auch, dass die Wracks der zerstörten KZ-Schiffe sichtbar gewesen seien und ein Schwimmen aufgrund der im Wasser schwimmenden Leichen nicht möglich gewesen sei.33
Wie bei vielen Außenlagern des KZ Neuengamme sind auch für das Außenlager Lübberstedt ein Großteil der Unterlagen von der SS zerstört worden. In erhaltenen Unterlagen, die die Munitionsfabrik betreffen, finden sich jedoch wichtige Hinweise auf das Außenlager. Für einen Großteil der Vorgänge beim Räumungstransport sind vermutlich von der SS keine Unterlagen mehr angelegt worden. Die im Kreiskrankenhaus Eutin sowie beim Angriff in Plön umgekommenen Häftlinge wurden jedoch durch zivile Stellen beerdigt. Für sie sind deshalb Standesamt- und Friedhofsunterlagen sowie, nach einer Umbettung in den 1960er-Jahren, Grabstellen in Norddeutschland erhalten. In der frühen Nachkriegszeit wurden Überlebende des Holocaust, die über Budapest zumindest zweitweise nach Ungarn zurückkehrten, zudem durch das Deportáltakat Gondozó Országos Bizottság (Landesfürsorgekomitee der Deportierten DEGOB) befragt. Auch mindestens 109 Überlebende des Außenlagers Lübberstedt und des Transportes nach Plön befanden sich darunter.34
Seit Anfang der 1980er-Jahre entstand bundesweit eine Vielzahl an Initiativen und Vereinen, die sich der Erforschung und Vermittlung lokaler Geschichte widmeten. Unter dem Motto „Grabe wo du stehst!“ gerieten dabei auch die vielfach vergessenen Standorte von KZ-Außenlagern und anderen Zwangsarbeitslagern in den Fokus. 1992 gründete sich in Lübberstedt ein Arbeitskreis, der sich mit der Geschichte der Munitionsfabrik und der dort geleisteten Zwangsarbeit auseinandersetzte. Der „Arbeitskreis MUNA Lübberstedt“ trug viele der verstreuten Quellen zur Munitionsfabrik zusammen und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1996 in einem Buch, das auch für diesen Artikel eine wichtige Grundlage bildet.35 Der Plöner Lokalhistoriker Karsten Dölger widmete sich intensiv den bei den Angriffen auf den Häftlingstransport zu Tode gekommenen Frauen, die in der Region beerdigt wurden. Seine Erkenntnisse veröffentliche er 2017 in einem Aufsatz.36 Es ist diese oftmals ehrenamtliche umfangreiche Forschung, die die vorhandenen Quellen zusammenträgt und die Grundlage für das Wissen aber auch die Erinnerung an die in den unterschiedlichen Außenlagern inhaftierten KZ-Häftlinge und ihre individuellen Schicksale bildet.
Louis Wörner, Die Räumung des KZ-Außenlagers Lübberstedt, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/deportationen/luebberstedt. Lizenz: CC BY 4.0.