Biographien, Lager und Zwangsarbeit
Mit dem Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkrieges, kam es ab 1918 zu einer
umfassenden staatlichen Neuordnung Südosteuropas. 1920 musste Ungarn dabei im Friedensvertrag von
Trianon zwei Drittel seines bisherigen Staatsgebietes an Nachbar- und Nachfolgestaaten wie zum
Beispiel die neu entstandene Tschechoslowakei oder Rumänien abtreten. Die Rückgewinnung dieser
Gebiete und Wiederherstellung eines „Großungarns“ war ein zentrales politisches Ziel der ungarischen
Revanchisten, die zu diesem Zwecke auch das Bündnis Ungarns mit dem nationalsozialistischen
Deutschland vorantrieben.1
Auf Druck Deutschlands wurde 1938 zunächst ein südlicher Teil der Tschechoslowakei und nach deren
endgültiger Zerschlagung 1939 durch Deutschland auch die Region Transkarpartien von Ungarn besetzt
und annektiert. Auch Rumänien wurde 1940 durch die Achsenmächte gezwungen, Teile seines
Staatsgebietes an Ungarn abzutreten. Nach dem deutschen und italienischen Angriff auf das Königreich
Jugoslawien annektierte Ungarn zudem Gebiete im nördlichen Teil des
Landes.2 Die jüdische Bevölkerung
dieser von einer Vielzahl verschiedener Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Sprachen und
Religionen bewohnten Regionen teilte damit das Schicksal der übrigen ungarischen Jüdinnen und Juden
und wird auch heute noch häufig in Forschungs- und Gedenkkontexten als Teil dieser Gruppe
verstanden, obwohl sie selbst sich nur zum Teil als ungarisch verstanden oder Ungarisch sprachen.
Jüdinnen und Juden aus den annektierten Gebieten machten 1941 etwa 45 Prozent der jüdischen
Bevölkerung des damaligen Ungarns aus.3
Auf dieser Website wird daher die Formulierung „aus Ungarn deportiert“ verwendet.
1941 trat Ungarn als Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. Die Lage für die jüdische Bevölkerung verschärfte sich dadurch.4 Bereits seit den 1920er-Jahren, waren Jüdinnen und Juden in Ungarn diskriminierenden Gesetzen unterworfen, zu denen nach Kriegseintritt weitere hinzukamen. Männliche Juden, die vom Kriegsdienst ausgeschlossen waren, wurden etwa in Arbeitsbataillonen zur Zwangsarbeit an der Front eingeteilt, wo vermutlich 15.000 von ihnen starben.5 1941 wurden zudem Ehen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Partnern verboten und die Definition, wer als jüdisch anzusehen sei, ausgeweitet. Entscheidend war zukünftig nicht nur die Religionszugehörigkeit, sondern auch die Abstammung.6 Ende August 1941 wurden dann circa 18.000 Juden und Jüdinnen, die entweder zuvor aus anderen Ländern vor den Nationalsozialisten nach Ungarn geflohen waren oder nicht schnell genug ihre ungarische Staatsangehörigkeit nachweisen konnten, als „fremde“ Jüdinnen und Juden aus Transkarpatien in von Deutschland besetzte Gebiete deportiert. Dort wurden sie im Massaker von Kamenez-Podolsk zusammen mit einheimischen Jüdinnen und Juden durch Angehörige der deutschen Ordnungspolizei und der SS ermordet. Inwieweit auch ukrainische und ungarische Verbände beteiligt waren, ist umstritten. Insgesamt 23.600 Menschen wurden in der bis dahin größten Massenerschießung und Mordaktion des Holocaust ermordet, darunter circa 14.000 bis 16.000 aus Ungarn deportierte Jüdinnen und Juden.7 Auch in den annektierten Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens kam es zu einem Massaker durch ungarische Gendarmerie bei dem ungefähr 2.550 Serben und Serbinnen sowie 700 Jüdinnen und Juden ermordet wurden.8 Die ungarische Regierung weigerte sich zunächst, die als ungarisch verstandenen Jüdinnen und Juden an das Deutsche Reich auszuliefern, womit diese vorerst vor der Deportation in die Vernichtungslager verschont blieben.9
Als 1943 ein Sieg der Achsenmächte immer unwahrscheinlicher wurde, begann die ungarische Regierung – wie auch zuvor Italien –, heimlichen Kontakt mit den Alliierten aufzunehmen. Nachdem Italien tatsächlich im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet und das Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland aufgelöst hatte, sollte eine Wiederholung dieser Vorgänge in Ungarn verhindert werden. Im März 1944 wurde Ungarn deshalb durch deutsche Truppen besetzt und eine neue Regierung eingesetzt, wobei das Staatsoberhaupt Miklós Horthy sein Amt behielt.10
Die aus Ungarn deportierten Juden und Jüdinnen gehörten verschiedenen Gemeinden und religiösen Strömungen im Judentum an. Nicht alle definierten sich zwangsläufig selbst als jüdisch. Für ihre Verfolgung durch die Nationalsozialisten war weder ihre Religion noch eine kulturelle Zugehörigkeit zum Judentum oder die Selbstzuschreibung entscheidend. Das Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung bildete ein rassistischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden nach ihrer Abstammung definierte. Auch Christen und Christinnen sowie Atheisten und Atheistinnen wurden unabhängig von ihrer Selbstdefinition oder kulturellen Zugehörigkeit durch die Nationalsozialisten als Juden verfolgt, wenn sie deren Abstammungskriterien entsprachen. Nicht alle hier als Jüdinnen und Juden bezeichneten Personen identifizierten sich selbst als jüdisch, sie alle wurden jedoch als jüdisch verfolgt.
Mit den deutschen Besatzungstruppen kam auch eine Sondereinheit der SS, das „Sondereinsatzkommando Eichmann“, nach Ungarn. Unter der Führung von Adolf Eichmann sollte dieses die Deportation der Jüdinnen und Juden Ungarns organisieren.11 Unmittelbar nach der deutschen Besatzung wurde die jüdische Bevölkerung zunächst zum Tragen eines Sternes verpflichtet und anschließend ab April 1944 in Ghettos gezwungen. Bereits im Mai 1944 begannen die ersten Deportationen in den Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplex Auschwitz. Die ehemals tschechoslowakischen und rumänischen Gebiete Ungarns gehörten zu den ersten Gebieten, aus denen die jüdische Bevölkerung deportiert wurde, da ihre baldige Befreiung durch die Rote Armee befürchtet wurde und die Deportation der dortigen Juden und Jüdinnen der ungarischen Regierung innenpolitisch unbedenklicher erschien. In weniger als zwei Monaten verschleppten die Nationalsozialisten mithilfe der ungarischen Gendarmerie circa 437.000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau.12
Den Großteil von ihnen ermordete die SS direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern in Birkenau. Lediglich etwa ein Viertel wurde bei den „Selektionen“ ausgewählt, um Zwangsarbeit für das Deutsche Reich zu leisten.13 Ein Teil der Häftlinge wurde in Arbeitskommandos direkt im Lagerkomplex Auschwitz eingesetzt, beispielweise in den eigens dort angesiedelten Industriebetrieben. Während ihrer Zeit in Auschwitz standen die Häftlinge in ständiger Gefahr, bei erneuten „Selektionen“ zur Ermordung ausgewählt zu werden. Ein anderer Teil wurde für Arbeitskommandos in einem der über tausend Außenlager des nationalsozialistischen KZ-Systems ausgewählt, die an verschiedenen Industriestandorten im Deutschen Reich oder in den besetzten Gebieten angesiedelt waren.14
Das nationalsozialistische Deutschland griff in hohem Maße auf Zwangsarbeit unterschiedlicher Formen zurück, um seinen Arbeitskräftebedarf zu decken. Allein im Deutschen Reich mussten während des Zweiten Weltkrieges über 13,5 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten.15 Eine Steigerung der Erwerbsarbeit von Frauen wurde von den Nationalsozialisten aus ideologischen Gründen und innenpolitischer Rücksichtnahme abgelehnt, so dass stattdessen auf ausländische Arbeitskräfte zurückgegriffen werden sollte.16 Da die Rekrutierung freiwilliger ziviler Arbeitskräfte, sogenannte „Fremdarbeiter“, in den verbündeten Staaten und den besetzten Gebieten aber weit hinter den Erwartungen der nationalsozialistischen Machthaber zurückblieb, wurden ab 1940 teilweise ganze Geburtsjahrgänge zwangsverpflichtet oder unter Gewalt deportiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion bildeten Menschen aus der Sowjetunion, sogenannte „Ostarbeiter“ schnell die größte Gruppe der zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Hinzu kamen Kriegsgefangene, die ebenfalls zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, sowie KZ-Gefangene.17 Zwangsarbeit wurde dabei in allen Industriezweigen aber auch in der Landwirtschaft und in Privathaushalten eingesetzt. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gehörten damit insbesondere in den letzten Kriegsjahren zum sichtbaren Alltag im nationalsozialistischen Deutschland. Die Lager, in denen sie untergebracht waren, befanden sich auch in Wohngebieten und ihre Arbeitsplätze wie auch Arbeitswege teilten sie mit deutschen Zivilpersonen.18 Eine Übersicht über die bekannten Lager und Arbeitsorte von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Hamburg gibt es beispielsweise hier.
Die individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hingen dabei von ihrem rechtlichen Status, ihrer nationalen Zugehörigkeit, ihrem Geschlecht sowie ihrem Arbeitsort ab. Insbesondere Menschen aus Polen und der Sowjetunion waren der Willkür und Gewalt ihrer Vorarbeiter und des Wachpersonals ausgeliefert und wurden oft gezwungen, unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Noch brutaler und menschenverachtender waren die Arbeitsbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen, die 1,3 Millionen Soldaten nicht überlebten. Zusammen mit den KZ-Häftlingen bildeten sie das unterste Ende der rassistischen und sozialdarwinistischen Hierarchie der nationalsozialistischen Zwangsarbeit. Die harte körperliche Arbeit, die bewusst herbeigeführte Unterernährung und mangelhafte Ausstattung machten ein Überleben für viele Häftlinge nicht möglich. Sie wurden mittels der Bedingungen, unter denen sie gezwungen wurden zu arbeiten und zu leben, durch die Nationalsozialisten ermordet.19
Für die Arbeit der KZ-Häftlinge prägte Wolfgang Sofsky daher den Begriff „Terrorarbeit“, um zu betonen, dass der Zweck der Arbeit nicht deren Produktivität gewesen sei, sondern die ineffektiven Arbeitseinsätze vor allem der Terrorisierung der Häftlinge gedient hätten. Für die Arbeit in den Neuengammer Außenlagern lehnt der Historiker Marc Buggeln diesen Begriff explizit ab und argumentiert, dass die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge bis zum Tod durch Erschöpfung im ökonomischen Interesse der Unternehmen gewesen sei. Er plädiert stattdessen für den Begriff „Sklavenarbeit“, der auch von vielen Überlebenden verwendet wird.20
Nachdem andere Arbeitskräftereservoirs für Zwangsarbeit 1944 bereits ausgeschöpft waren, hatten die Nationalsozialisten sich 1944 entschlossen, auch Jüdinnen und Juden aus den Vernichtungslagern an Industriestandorte ins Deutsche Reich zu deportieren. Etwa 200.000 Jüdinnen und Juden wurden daraufhin in Konzentrationslager und ihre Außenlager im Deutschen Reich deportiert, darunter auch circa 110.000 Jüdinnen und Juden, die zuvor aus Ungarn deportiert worden waren.21 Um die Kontakte mit der Zivilbevölkerung und Fluchtmöglichkeiten zu begrenzen, wurden diese KZ-Häftlinge in eigenen Außenlagern festgehalten, die weiterhin der SS unterstanden. Für die Jüdinnen und Juden aus Ungarn, denen die SS in ihrer antisemitischen Weltsicht eine besondere Gefährlichkeit unterstellte, bestand diese zudem darauf, dass sie nicht in Gruppen unter 500 eingesetzt werden dürften.22 Circa 5.800 jüdische Frauen, die aus Ungarn deportiert worden waren, gelangten so aus Auschwitz in Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, teilweise über Bergen-Belsen oder andere Konzentrationslager.23
Nach der Absetzung von Miklós Horthy und dem durch die deutschen Besatzer unterstützen Putsch der faschistischen Pfeilkreuzler in Ungarn im Oktober 1944 wurden die Deportationen in den noch nicht von der Roten Armee befreiten Gebieten erneut aufgenommen. Mehrere zehntausend Jüdinnen und Juden wurden zu Fuß zur österreichischen Grenze getrieben, wo sie deutschen Stellen übergeben wurden. Auch sie wurden anschließend als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt.24 Ein Teil von ihnen wurde auch nach Norddeutschland deportiert, so etwa circa 840 Häftlinge, die im November 1944 im Stammlager Neuengamme ankamen. Hinzu kamen männliche Häftlinge, die ebenfalls über Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Norddeutschland deportiert wurden.25 Da über 15.000 Namen von KZ-Häftlingen aus Ungarn in Bergen-Belsen bekannt sind, diese aufgrund der schlechten Quellenlage nur einen Bruchteil der tatsächlichen Anzahl darstellen, war die Gesamtzahl der Häftlinge, die aus Ungarn deportiert wurden und in nordwestdeutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren, sicherlich wesentlich größer. Insgesamt wird die Zahl der aus Ungarn deportierten KZ-Häftlinge, die Zwangsarbeit im Deutschen Reich leisten mussten, auf 176.000 geschätzt. 26
Die jüdischen KZ-Häftlinge wurden insbesondere bei der körperlich schweren Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie eingesetzt, zu der die Nationalsozialisten ab 1943 angesichts der alliierten Luftüberlegenheit übergegangen waren. Aber auch in anderen Zweigen der Rüstungsindustrie und bei der Trümmerräumung wurde auf die Zwangsarbeit der ungarischen Jüdinnen und Juden zurückgegriffen.27
An vielen Arbeitsorten waren die Arbeitsbedingungen so gestaltet, dass ein Überleben nicht dauerhaft möglich war. Tausende Häftlinge wurden so im Zuge einer „Vernichtung durch Arbeit“ durch die Nationalsozialisten ermordet.28 Die Überlebenschancen der Häftlinge hingen dabei nicht zuletzt von den zugeteilten Arbeitseinsätzen ab. Um eine Befreiung der KZ-Häftlinge durch die Alliierten zu verhindern, wurden deren Lager vor der sich nähernden Front geräumt. Die Häftlinge wurden per Zug oder zu Fuß in sich weiterhin unter deutscher Kontrolle befindliche Konzentrationslager deportiert. Viele Häftlinge starben auf diesen durch die Überlebenden als Todesmärsche charakterisierten Transporten. Nur etwa 63 Prozent der nach Deutschland deportierten Jüdinnen und Juden, die zuvor aus Ungarn deportiert worden waren, überlebten die nationalsozialistische Zwangsarbeit.29
Louis Wörner, Historischer Kontext: Ungarn und nationalsozialistische Zwangsarbeit, in: Der Holocaust in Ungarn und die Deportationen nach Norddeutschland. Biographien, Lager und Zwangsarbeit, hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, URL: https://holocaust-ungarn-norddeutschland.de/context. Lizenz: CC BY 4.0.